Dushan-Wegner

13.12.2020

Impfungen und verlorene Freunde

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Luca Bravo
Ich höre, dass Politiker sich zuerst impfen lassen wollen. »Diese Egoisten!«, denke ich, und bin dann zerrissen: Was würden wir sagen, wenn sie sich selbst ZULETZT impfen lassen würden, und zuerst etwa die Obdachlosen?
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Ein Ertrinkender, der ein Stück Holz im Wasser treiben sieht, unterzieht er denn das Holz aufwändiger Prüfung, bevor er danach greift? Fragt er nach des Holzes Herkunft? Misst er die Traglast, den Umfang und die Beschaffenheit? – All das: Nein!

Der Ertrinkende greift nach dem Holz und hält sich mit aller Kraft daran fest, dankbar und ohne jede Prüfung – was bleibt ihm auch anderes übrig?

»brain switch off«

Nein, sie werden nicht weniger, seit Jahren nicht, die E-Mails von Bürgern in meinem Postfach, die halb verwundert und halb verzweifelt berichten, wie ihre Kinder oder lieben Verwandten im Propagandastaat Deutschland »roboterhaft« und »geradezu gehirngewaschen« wirken.

Ich erlebe es ja selbst – wenn ich auch hier aus naheliegenden Gründen keine Namen oder ähnliches nenne. Man fühlt sich elend, man fühlt sich hilf- und ratlos, wenn ein ansonsten intelligenter Mensch in Angelegenheiten auch der eigenen Zukunft sein Gehirn auf Durchzug schaltet. Ich habe es einmal im Stil moderner Anglizismen den »brain switch off« genannt, vielleicht wäre »partial brain switch off« genauer: das partielle Ausschalten des Gehirns.

Es hat damit zu tun, wie Menschen mit inneren Widersprüchen umgehen, auch »kognitive Dissonanz« genannt – womit wir thematisch nah an Glaubensangelegenheiten wären.

»Und die Hitze!«

In der Seinfeld-Folge »The Burning« (ausgestrahlt am 19. März 1998) stellt Elaine fest, dass ihr Freund Buddy ein gläubiger Christ ist. Elaine fragt ihn geradeheraus, warum es ihm nichts ausmache, dass sie selbst nicht an Jesus glaubt, und Puddy antwortet, es sei ihm herzlich egal: »Ich bin ja nicht derjenige, der in der Hölle schmort!«

Elaine, die weder an den Himmel noch an die Hölle glaubt, ist nichtsdestotrotz äußerst verärgert, dass ihr Freund glaubt, er komme in den Himmel und sie in die Hölle:

Elaine: David, I’m going to hell! The worst place in the world! With devils and those caves and the ragged clothing! And the heat! My god, the heat! I mean, what do you think about all that?
Puddy: Gonna be rough.
Elaine: Uh, you should be trying to save me!
Puddy: Don’t boss me! This is why you’re going to hell.
Elaine: I am not going to hell and if you think I’m going to hell, you should care that I’m going to hell even though I am not.

zu Deutsch etwa:

Elaine: David, ich komme in die Hölle! Der schlimmste Ort der Welt! Mit Teufeln und diesen Höhlen und der zerrissenen Kleidung! Und die Hitze! Mein Gott, die Hitze! Ich meine, was denkst du von all dem!
Puddy: Das wird hart.
Elaine: Eh, du solltest mich zu retten versuchen!
Puddy: Kommandier mich nicht herum! Das ist, warum du in die Hölle kommst.
Elaine: Ich komme nicht in die Hölle, und wenn du denkst, dass ich in die Hölle komme, sollte es dich bekümmern dass ich in die Hölle komme, auch wenn ich nicht in die Hölle komme.

Jene Szene erinnert natürlich manchen auch an das heutige »facettenreiche« Verhältnis von Muslimen zu Nichtmuslimen, wo Nichtmuslime als »Ungläubige« bezeichnet werden, was den Ungläubigen nicht in der eigentlichen Sache ein Problem ist, sondern nur in der impliziten Abwertung. Und diese Szene illustriert auch eine Spannung, die ich heute bei einer anderen, einer sehr aktuellen Tagesnachricht verspüre!

Politiker oder Obdachlose zuerst?

Es hat auch in der Corona-Krise den Eindruck, dass alle Bürger gleich sind – und einige eben gleicher: »Abgeordnete sollen schneller geimpft werden«, »Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat jetzt bei der Bundesregierung angemeldet, dass alle 709 Bundestagsabgeordneten schneller geimpft werden sollen.« (bild.de, 12.12.2020

Ich will ehrlich aussprechen, dass ich von dieser Meldung etwas verärgert bin. Wir wissen ja, dass Politiker sich für »wertvoller« halten, dass sie andere Gesetze (auch andere Marktgesetze…) für sich in Anspruch zu nehmen scheinen, doch müssen sie es auch so offen zeigen?! Warum sollten die Politiker früher geimpft werden?!

Auf der anderen Seite: Wie würden wir reagieren, wenn die Meldung das genaue Gegenteil berichten würde? Etwa so: »Zuerst werden Obdachlose geimpft, dann sozial Schwache und Arbeitslose ohne direkte Familie« – wäre diese Meldung, obwohl sie ihr Gegenteil aussagt, denn nicht (wenn auch aus anderen Gründen) noch empörender?

Man könnte sich heute wie Elaine in der TV-Serie Seinfeld fühlen, deren Freund glaubt, dass sie in die Hölle kommt, was sie nicht glaubt und dennoch empörend findet.

Wir werden bald zerrissen zwischen widersprüchlichen Deutungen und Argumenten. Ich verstehe jeden, der in der Nachrichtenlage zu ertrinken meint – womit wir wieder bei der Metapher vom treibenden Holz wären.

Von der Leugnung zum Lockdown

Ich will um Verständnis bitten für die Menschen, die heute ihr Gehirn »auf Durchzug« zu stellen scheinen, und wie programmierte Roboter wiederholen, was hochbezahlte Manipulatoren im Staatsfunk sagen.

Wenn der Staatsfunk seine verkündete Wahrheit um 180 Grad dreht, drehen sie ihre Meinung ganz automatisch mit um 180 Grad. Anfang des Jahres 2020, als der Staatsfunk die Virusgefahr als rechte Verschwörungstheorie herunterspielte, lachten auch die Gerngehorsamen über das Virus. Als Regierung und Staatsfunk von einem Extrem ins andere schleuderten, von der Leugnung zum Lockdown, schleuderten auch die Gerngehorsamen mit. – Gewissermaßen so: »Wahr ist, was die Autoritäten sagen, dass es wahr ist. Ein Lügner ist, der den Autoritäten widerspricht.«

Es tut weh, wenn Kinder, die durch das deutsche Bildungssystem gehen, oder Freunde, die abendlich Staatsfunk gucken und die von der Regierung co-finanzierten Nachrichten-Sites lesen, ihr Gehirn »auf Durchzug stellen«, wenn sie ihre Neugier und ihren Verstand abgeben, und damit einen so wichtigen und wesentlichen Teil ihres Menschseins verdorren lassen.

Es tut weh, wenn liebe Menschen sich fremd anfühlen, weil sie ihr Denkvermögen auf die Reproduktion von Propaganda-Parolen reduzieren, doch deren Verhalten ist auf gewisse Weise verständlich: Diese Menschen sind wie Ertrinkende, welche aus Angst nach dem Holz greifen, das ihnen Staatsfunk und Propaganda hinhalten.

Ein Ufer zu erreichen

Was habe ich dem Ertrinkenden denn anzubieten?

Der Staatsfunk sagt: »Du wurdest ins Wasser geworfen, aber hier ist ein Holz, an dem du dich festhalten kannst!«

Ich sage: »Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!«, was sich in der Metapher vom Ertrinkenden etwa so übersetzen lässt: »Lern’ schwimmen! Und wirft auf jeden Fall das Holz weg, das die Propaganda dir hinhält!«

Ich verstehe jene, welche aus Angst vorm Ertrinken sich geradezu panisch verkrampft am Schwemmholz festhalten, das ihnen die Propaganda hinhält. Zugleich: Ich verstehe jene, welche der Propaganda nicht glauben können, aber zugleich weder Mut noch Kraft übrig haben, selbst nach Antworten zu suchen, und also ganz »sich ausklinken« und einfach so tun, als gäbe es keine Gefahr, als würde das Wasser ihnen nicht bis Oberkante Unterlippe stehen. Ich verstehe beide Gruppen – wenn es auch wehtut, nahe Menschen derart zu verlieren.

Früher versuchte ich viel zu oft – und ich erwische mich noch immer beim reflexhaften Versuch! – meine Mitmenschen davon zu überzeugen, selbst zu schwimmen statt nach dem trügerischen Stöckchen zu greifen, das ihnen die Propaganda hinhält.

Ich ringe mich heute zur Überzeugung durch, dass – um in der Metapher zu bleiben – es zu spät ist, »schwimmen zu lernen, wenn man bereits ertrinkt«.

Manche Menschen haben nie zu »schwimmen« gelernt, oder die Fähigkeit war ihnen von Natur aus nicht gegeben. Manche Menschen werden sich am Stöckchen festhalten und immer weiter raus in unsicheres Wasser gezogen werden, statt den Mut aufzubringen, selbst zu schwimmen und aus eigener Kraft zumindest zu versuchen, ein Ufer zu erreichen.

Ich weiß noch nicht, was ich davon halte, wenn Politik sich selbst zuerst impfen möchte. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehe, wenn liebe Menschen sich an den Hölzchen festklammern, welche die Propaganda ihnen hinhält.

Ich wünsche uns die Kraft, alle Dinge so zu sehen, wie sie sind – wirklich alle – und dann entsprechend zu handeln.

Ich möchte jedem einzelnen – auch mir! – den Mut zusprechen, auch weiter »selbst zu schwimmen«.

Allen Eltern aber – auch hier wieder: auch mir! – möchte ich den Mut zusprechen: Leitet eure Kinder beizeiten in der Kunst des Selbstschwimmens an! Führt sie zum Selbstdenken an, und sprecht ihnen den Mut zu, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.

Weiterschreiben, Wegner!

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