Dushan-Wegner

14.10.2021

Was wirst du denn erwartet haben?

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Foto von Aleksei Zaitcev
Wer vorausdenkt, der könnte seine Mitmenschen gleich dreifach nerven. Zuerst, indem er mahnt und warnt. Später, indem er fragt: Was habt ihr denn erwartet? Und zuletzt, wenn er für sich selbst antwortet: Ich habe das hier erwartet, genau das hier.
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp
YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Was hast du denn erwartet? Wir kennen diese Frage, und sie ist rhetorisch gemeint. Der Fragesteller will nicht wirklich Informationen über unsere inneren Zustände in Erfahrung bringen. Wir sollen nicht wirklich unsere Erwartungen und Berechnungen zu Protokoll geben. Ohnehin wäre es zu spät, im Nachhinein ein Erwartungsprotokoll zu beginnen.

Die Frage nach den vorangegangenen Erwartungen ist ein psychologisch trickreicher Vorwurf. Der Gefragte soll zunächst zu antworten versuchen, und die Antwort soll ihm nicht gelingen.

Das Scheitern an der Antwort soll anstoßen, dass der Gefragte in Richtung seiner selbst einen bestimmten Vorwurf formuliert. In präzise Worte gebracht lautet dieser Vorwurf: Du hast die Folgen aktueller Entwicklungen und deiner Handlungen darin nicht ausreichend und ehrlich durchdacht, und so hast du auch deine Handlungen nicht sinnvoll an zu erwartende Geschehnisse anpassen können.

Was hast du denn erwartet? Eine plausible Antwort könnte so klingen: Meine Erwartung basierte auf Wunsch und Reflex, nicht auf den tatsächlichen Kausalitäten der Welt. Oder schlicht: Ich war zu naiv.

Ja, diese Frage ist ein Vorwurf, und damit eine sehr natürliche Angelegenheit.

Wir spüren ein jeder gelegentlich in uns den Drang, einen Vorwurf zu machen. Vorwürfe an die Mitmenschen. Vorwürfe an uns selbst.

Sobald es aber die eigene Person betrifft, mögen wir es gar nicht, Vorwürfen ausgesetzt zu werden, und das gilt auch dann, wenn wir diese Vorwürfe selbst formulierten – manche sagen: gerade dann. Vorwürfe sind unangenehm, auch und besonders Vorwürfe, die wir uns selbst machen, und doch machen wir sie. 

Zwei Regeln, erstens: Wenn es uns zu etwas von Natur aus drängt, dann hatte dies wahrscheinlich einen evolutionären Vorteil für die genetische Gruppe.

Und zweitens: Wenn sich etwas aufgrund unserer Natur unangenehm anfühlt, dann war es für die relevante Gruppe von Vorteil, dass diese Handlung gemieden wurde.

Vorwürfe sollen das Verhalten des Individuums zugunsten der Gruppe korrigieren. Wir machen Vorwürfe, um das Verhalten des Einzelnen zum Vorteil der Gruppe zu modifizieren. Indem wir Vorwürfen auszuweichen versuchen, passen wir unser Verhalten zum Vorteil der Gruppe an.

Private Vorwürfe, die wir uns selbst machen, sollen unser Verhalten zu unserem eigenen Wohl steuern, aber auch wieder zum Wohl der Gruppe, was oft damit einhergeht, dass die zugrunde liegenden Werte uns von Autoritätspersonen anerzogen wurden.

Was hast du denn erwartet? Diese Frage ist ein Vorwurf und eine Aufforderung. In direkter Rede lautet die Aussage: Denke in Zukunft genauer und ehrlicher darüber nach, welche Konsequenzen aktuelle Ereignisse und deine Handlungen innerhalb dieser Ereignisse haben werden! Fasse den Mut, die wahrscheinliche Entwicklung zumindest als möglich zu akzeptieren.

Was hast du denn erwartet? Es ist ein Vorwurf, und als solcher kann er sowohl für den Einzelnen als auch für die Gruppe nützlich sein.

Der Vorwurf unklarer Erwartungen bezieht sich auf die Vergangenheit, der Nutzen dieses Vorwurfs aber liegt in Gegenwart und Zukunft.

Fragen wir also in die Zukunft: Was wirst du denn erwartet haben?

Formulieren wir diese Frage direkt, formulieren wir die unmittelbare Aufforderung: Bedenke die Konsequenzen aktueller Entwicklungen!

Was wirst du erwartet haben? Wie ehrlich bist du dir selbst gegenüber bei deiner Antwort auf die Frage, was sich realistisch morgen aus dem Heute ergibt?

Nimm die Vorwürfe vorweg, auch deine eigenen zukünftigen Vorwürfe an dich selbst.

Was hast du denn erwartet? Was wirst du erwartet haben? Stell dir diese Fragen, und stell sie dir als Freund, bevor die kalte Realität sie dir stellt. Die Realität kennt weder Freund noch Feind, sie kennt nur die Handelnden, und die, an denen gehandelt wird.

Was hast du denn erwartet? Was wirst du erwartet haben?

Ich will es mich heute fragen, und ich will es ehrlich beantworten.

Dann kann ich hoffentlich morgen und übermorgen zu Protokoll geben: Was ich erwartet habe? Ich habe das hier erwartet, genau das hier.

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Arbeit (inzwischen 2,036 Essays) ist nur mit Ihrer Unterstützung möglich.

Wählen Sie bitte selbst:

Jahresbeitrag(entspr. 1€ pro Woche) 52€

Augen zu … und auf!

Auf /liste/ finden Sie alle Essays, oder lesen Sie einen zufälligen Essay:

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Wegner als Buch

alle Bücher /buecher/ →

Was wirst du denn erwartet haben?

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)