Dushan-Wegner

01.11.2023

Am Rand der bekannten Welt

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: »Mensch, was guckst du?«
Leuchttürme lassen uns sehnsüchtig werden. Wir denken an Stürme, an Wegweisung für Schiffe. Tatsächlich markieren Leuchttürme aber die längst etablierte Schifffahrt. Echte Entdeckung beginnt, wo das bislang Ungedachte gedacht wird.
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Es gibt einen geographischen Punkt, einen Punkt an Land, an dem konnte einst ein Mensch stehen, übers Meer schauen und sich dabei denken: »Dies ist der Rand der Welt.«

Es ist eine Halbinsel mit dem Namen »Punta de la Orchilla«. Die eigentliche Insel heißt El Hierro. Sie ist die westlichste der Kanarischen Inseln.

Seit der Antike galt El Hierro als der westlichste Punkt der Welt. Und sie sind die Inseln, auf denen Cristoph Kolumbus zuletzt hielt, bevor er gen Neue Welt aufbrach.

Siebzehn Schiffe

Auf dem Weg in die Neue Welt machte Kolumbus regelmäßig ein letztes Mal Halt auf den Kanarischen Inseln, um Vorräte aufzufüllen. Auf Gran Canaria etwa und auf La Gomera. Zu Beginn der zweiten seiner vier Reisen wartete er auf El Hierro neunzehn Tage lang, bis ein günstiger Passatwind aufzog, der seine siebzehn Schiffe über den Atlantik tragen würde, und sie mit Gold und Sklaven zurückkehren könnten.

Ja, ich weiß, dass die Wikinger offenbar schon viel früher in Nordamerika waren (siehe nationalgeographic.de), doch das ist erst seit Kurzem bekannt. Für die meisten Menschen Europas, auch und gerade für die Gelehrten, war vor Kolumbus diese Insel El Hierro der Rand der bekannten Welt. (Nachtrag: Ein Leser weist darauf hin, dass bereits 1350 die Azoren erwähnt wurden, die noch westlicher lagen. Alles hier Gesagte gilt ja ähnlich für die Azoren. Der psychologisch-philosophische Kern ist, dass es einen Punkt gab, an dem man stehen konnte, im Bewusstsein, am Rand der bekannten Welt zu stehen – bis die »Neue Welt« entdeckt und erschlossen wurde.)

Durch Fernsehen, Magazine, später Internet und Billigflüge haben wir nun alle das Gefühl, die gesamte Erdkugel zu überblicken. Die bekannte Welt hat keine Ränder mehr, nur Verfärbungen, Vernarbungen und Entzündungen.

Seien wir ehrlich: Die Entdeckungen sind insgesamt eine riesige Enttäuschung. Die Menschheit ist nicht weiser geworden und bestimmt nicht glücklicher.

Der Unterschied zwischen Hoffnung und Illusion liegt häufig im Wissensstand bezüglich des Gegenstands jener sogenannten Hoffnung.

Dem Ahnungslosen hofft es sich einfacher. Dem Hoffenden leidet es sich leichter. Auch deshalb ist es nützlich, das Volk dumm zu halten, dumm und hoffnungsvoll. Weisheit erkennst du am Wissen ohne Verzweiflung.

Im zwanzigsten Jahrhundert wurde auf El Hierro ein Leuchtturm gebaut, am Punta de la Orchilla. Doch so praktisch ein Leuchtturm auch ist, als Leuchtfeuer für Schiffe in der Nacht auf weitem Meer – er wurde erst gebaut, nachdem die Schifffahrt längst etabliert war.

Lange vor den Leuchttürmen aus Stein und Eisen, mit elektrischem oder anderem Licht, gab es Menschen, die an dieser westlichen Kante der bekannten Welt standen und sich fragten: Was dort wohl liegt?

Um uns zu berichten

Alle Technologien und alle Entdeckungen schaffen neue Wege zu neuer Erkenntnis; sie sind nicht die Art von Weg, der sein eigenes Ziel ist.

So romantisch ein Leuchtturm am westlichsten Punkt Europas auch ist, so hätte ich mir doch gern vorgestellt, dass da früher schon ein Mensch stand und – sei es nur im Geist! – eine Fackel hochhielt.

Ein Mensch, der sich selbst Mut zurief: Sei der Leuchtturm, der den Menschen auf dem Land die Richtung weist.

Sei der Leuchtturm, der den Menschen den Mut gibt, das Land zu verlassen und nachzuschauen, was hinterm Horizont liegt. Leuchte so weit, wie du kannst – und versprich weiterzuleuchten, damit die Abenteurer zurückkehren können, um uns zu berichten, was sie entdeckt haben.

Aus wilder Bucht

Die Kunstwerke in den staatlichen Museen, die Bücher im Kanon und in den Regalen der Gebildeten, die Zitate in Sonntagsreden – all das sind Leuchttürme, kein Zweifel. Doch bedenkt: Leuchttürme werden immer erst dann gebaut, wenn die Seewege etabliert sind.

In Büros hängen sie Bilder von Leuchttürmen auf. Darauf mutmachende Sprüche. Für den schaffenden Geist der Bürobevölkerung. Es findet sich unbeabsichtigte Wahrheit darin: »Befahrt die Seewege, die Hunderte und Tausende vor euch befahren haben!«

Wir sollten nicht Bilder von Leuchttürmen verehren, sondern von Schiffen, die aus wilder Bucht aufbrechen ins echte Unbekannte, ins wirklich Ungewisse.

Das dahinterliegt

Die Welt würde nicht funktionieren, wenn wir alle nur an ihren Rändern stünden und spekulierten, was wohl hinterm Horizont liegt. Um wieviel ärmer wäre die Menschheit, wenn überhaupt niemand es wagte, mutig vom Rand des Bekannten zu springen!

Der Gedanke bewegt mich sehr, seit ich von ihm hörte: Es gab Menschen, die standen im Westen der westlichsten Insel der bekannten Welt, schauten zum Horizont und spürten den Drang – den oft hilflosen Drang – nach dem Unbekannten, das dahinterliegt.

In »Fight Club« schreibt Chuck Palahniuk: »Our great war is a spiritual war. « – »Unser großer Krieg ist ein spiritueller Krieg.« – Der Autor sah es voraus, es ist heute wahrer denn je.

Ich sage: Das Zeitalter der Entdeckungen ist nicht vorbei – jetzt beginnen die anstrengendsten der Entdeckungen. Ab hier beginnt die Reise, welche zu viele Menschen mehr fürchten als Tod und Folter.

Wenn wir aber als Einzelne und als Gruppe nicht auf debile Reizreaktionsmaschinen reduziert werden wollen, manipuliert und kontrolliert von einer gewissenlosen, zynischen »Elite«, dann muss das wahre Zeitalter der Entdeckung anbrechen, und zwar bald!

So nützlich und aufregend die Entdeckungen der Technologie und Geographie auch sein mögen, sie sind nur Weg und Werkzeug.

Die Reise zur nächsten »Neuen Welt« muss nach innen gehen. Wenn wir nicht ernsthaft aufbrechen, wird diese »neue Neue Welt« in ein oder zwei Generationen schlicht nicht mehr existieren. (Versuchen Sie mal, sich mit einem von Propaganda und Smartphones aufgezogenen Kind zu unterhalten – Sie ahnen, was ich meine.)

Kolumbus, zuletzt

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Kolumbus recht einsam. Er versuchte, vor Gericht durchzusetzen, dass die spanische Krone ihm den versprochenen Anteil an den Erlösen aus dem Handel mit der neuen Welt auszahlt. Am 20. Mai 1507 starb er, krank und bitter, im Alter von 54 Jahren.

Dieselben Autoritäten, die ihn zuvor gedemütigt und sich geweigert hatten, ihm seinen Anteil auszuzahlen, feierten ihn nach seinem Tod. Man errichtete Statuen und verehrte seine sterblichen Überreste als Reliquien. In der Dominikanischen Republik bauten sie ihm ein Mausoleum, und in dessen Namen liegt eine subtile Ironie: »Columbus Lighthouse« – »Kolumbus-Leuchtturm«.

Nicht jeder von uns kann, sollte oder muss gar ein Kolumbus sein. Ja, es sollte nicht einmal jeder an den Rändern der bekannten Welt stehen und gen Horizont blinzeln.

Wenn sie nicht herunterfallen

Und doch sind wir darauf angewiesen, dass ein paar »Spinner« sich an den Rand begeben – weil sie »nicht anders können«. Und dann werden sie den nächsten Schritt machen, auf die Gefahr hin, vom Rand der Welt herunterzufallen, und wenn sie nicht herunterfallen, können wir ihnen folgen.

Mir ist bewusst, dass viele dies »esoterisch«, »peinlich« oder aus anderem Grund zum Augenrollen finden – je nachdem, wie sie ihre Angst vor sich selbst verstecken.

Ich aber bin ziemlich sicher, dass der Rand, an dem wir alle stehen, der Rand des Unbekannten unserer eigenen Seele ist. Entdeckt eure Seele selbst, sonst werden andere sie für euch entdecken – und die werden darin anrichten, was die Eroberer in den eroberten Gebieten angerichtet haben.

Weiterschreiben, Wegner!

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