Dushan-Wegner

07.10.2021

Wenn sie dir alles nähmen

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Abhishek Koli
Wenn sie dir alles nähmen, was du dir erarbeitet hast, was du für deinen Verdienst und dein Anrecht hältst, was wird dennoch bleiben? Was an der Mühe deines Lebens wäre es wert, neu bei Nichts zu beginnen?
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»Was soll ich denn tun?« – »Ach, tu doch was du willst!« – »Gut, einverstanden, was aber will ich tun?«

Ein absurdes Gespräch? Es hängt wohl von der Sprache ab, in welcher man es führt.

Ich fand eine bestimmte Redeweise der Amerikaner immer bemerkenswert. Wenn man einander Anleitungen oder Befehle mitteilt, dann formuliert man schon mal: »What you want to do, is this…«, zu Deutsch etwa: »Was du tun willst, ist dies…«

»Du willst das tun«, »du willst jenes tun«. Das kann der Rat eines hilfsbereiten Fachmanns sein, so kann auch die Drohung eines Verbrechers klingen.

Ein Verbrecher, der seinem Opfer droht: »Du willst das tun – sonst!«

Ein Arzt, der seinem Patienten verkündet: »Sie wollen mehr Sport treiben – sonst!«

Der unverhohlen befehlende Imperativ wäre unhöflich. Diese Redeweise will den Befehlston maskieren. Der Sprecher verhüllt das Zwingende hinter der Feststellung von Interessen und den sich daraus zwingend ergebenden Handlungen. Man unterstellt dem Gegenüber einen Willen.

Es erinnert an jene typisch deutsche Aufforderung: »Sie möchten (zum Beispiel: in die Personalabteilung kommen)«.

Man könnte es auch so eindeutschen: »Wenn du weißt, was gut für dich ist, dann wirst du…«

Man könnte ja mal sich selbst fragen: Was würde ich wirklich tun wollen, »wenn ich wüsste, was gut für mich ist?« – Was würde ich mit selbst befehlen wollen?

Was soll ich tun?

Ich werde tun was ich will, doch was will ich?

Dann aber: Was soll ich wollen?

Diese Frage bedarf der Hilfe bedächtigerer Geister, vielleicht sogar größerer. Wohlauf, greifen wir zurück?

Im Gedicht »If–« (ich übersetzte und las es mit Ihnen im Essay vom 7.11.2018) schreibt Rudyard Kipling:

If you […] can watch the things you gave your life to, broken,
And stoop and build ’em up with worn-out tools …

In freier Prosa ins Deutsche übersetzt:

Wenn du zusehen kannst, wie das, wofür du dein Leben gegeben hast, zerbrochen wird, und wenn du dich bücken kannst und es neu aufbauen, mit deinem abgenutzten Werkzeug …

Wenn ich alles verlöre, wenn mir blank alles genommen würde, wofür ich mein Leben gab, wenn die Früchte meiner Arbeit zerfielen wie Kekse, die zu lange in Milch getunkt wurden, was an dem allen wäre es wert, neu von vorn zu beginnen?

Wenn, wie es in den ersten Zeilen jenes Gedichtes heißt, »um dich her alle ihren Kopf verlieren«, und wenn sie dir dafür die Schuld geben, wenn du zusehen musst, »wie das, wofür du dein Leben gegeben hast, zerbrochen wird«, wenn all das geschieht, dann soll sich dir die eine Frage stellen: Was am Werk deines Lebens ist dir so wertvoll, dass du es, älter und gebückter, aber auch erfahrener und weiser, wieder von Nichts an aufbauen willst?

Wenn man dir alles nähme, was du rechtmäßig zu besitzen meintest, alles, was du erreicht zu haben meintest, wenn solches Unglück der Fall wäre, welche deiner Taten hätte dennoch einen Wert gehabt, welchen Wert können sie dir nicht nehmen, solange du ihn nicht freiwillig aufgibst?

Es ist ein großes Vergnügen, einen Actionfilm zu schauen, wo Häuser samt Menschen explodieren, wo Gangster wild drohen und scharfe Kugeln fliegen, doch niemand, der bei Sinnen ist, will selbst tatsächlich in so einer Situation leben. Ähnlich verhält es sich wohl mit diesem Gedicht: Wir lesen es zur Inspiration, im besten Falle lesen wir es schon im Jugendalter, auf dass es ein Leben lang wirken und uns prägen kann.

Niemandem ist zu wünschen, dass er diese Worte lebt, dass es ihm von Inspiration zur dringend notwendigen Handlangung wird. Dein Leben könnte an den Punkt gelangen, dass du zum du-weißt-nicht-mehr-wievielten Mal »If–« liest, und dass du es plötzlich verstehst. Dann aber wäre gut, dass du sagen kannst, dass du vorab bedacht hast, was es ist, was und warum du wieder von Neuem beginnen möchtest. 

Alle Glücklichen und Ungeprüften aber, die bislang nicht in solche Lage gelangten, all die täten klug daran, sich dieser Fragen rechtzeitig und vorab zu stellen! Wenn man dir alles nähme, was du dir erarbeitetest, was könnten sie dir doch nicht nehmen, was würde bleiben?

Ein weiteres Mal die Frage: Was soll ich tun?

Du weißt die Antwort nun.

Was bleiben soll, wenn sie dir alles nehmen, das ist es, was du nun tun sollst – und damit ist es, was du tun willst – genau das.

Weiterschreiben, Wegner!

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