Dushan-Wegner

08.02.2021

1985

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Iswanto Arif
Ein Ministerium sorgt dafür, dass Wissenschaftler die Szenarien liefern, die man für den Lockdown braucht? Freunde, dies ist nicht mehr »1984«. Wir sind längst weiter. Dies ist »1985« oder so.
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Wir kennen ihn, den alten Witz, wonach wir gestern einen Schritt vorm Abgrund waren, doch heute zum Glück einen Schritt weiter sind.

Ja, er ist wohlbekannt, dieser Witz (um das landwirtschaftliche Wort »abgedroschen« zu meiden). Jedoch, für einen, der die Kultur und die Zeiten verstehen will, ist ein Witz, der wieder und wieder und wieder wiederholt wird, bis er bald ausgedroschen scheint, ein sehr präziser Zeiger für die kollektive Motortemperatur. Der aus- und abgedroschene Witz ist für den einzelnen Hörer vielleicht nicht mehr witzig, dafür aber interessant und bedeutsam!

Es gibt einen Punkt, ab welchem wir einen Witz nicht deshalb wiederholen, weil wir das Gegenüber zum Lachen bewegen wollen, sondern weil wir signalisieren möchten: »Wir verstehen uns!«

Die Funktion des Witzes ist es bekanntlich, mit den Methoden des Humors (also etwa: Verfremdung, Übertreibung) uns bei der Bewältigung einer schmerzhaften Differenz zwischen Begriff und Realität zu helfen. Wenn viele verschiedene Menschen also denselben Witz wiederholen, erkennen wir, wo es schmerzt.

Jener Witz mit dem Abgrund und dem Schmerz beginnt ja mit einer bekannten Redeweise, doch witztypisch nimmt er eine unerwartete, witzige Wendung.

Wer davon berichtet, gestern noch kurz vorm Abgrund gestanden zu haben, von dem erwartet man normalerweise anschließend einen Bericht darüber, wie es ihm gelungen ist, im allerletzten Moment doch noch zu wenden und dem Abgrund zu entgehen.

Der zweite Teil des Witzes, die Pointe, greift eine weitere gute deutsche Redeweise auf. Einen Schritt weiter zu sein steht ja üblicherweise dafür, einen positiven, konstruktiven Fortschritt gemacht zu haben. Im Witz aber werden diese eigentlich nicht zueinander passenden Redeweisen kombiniert, da deren wörtliche, prämetaphorische Bedeutung erstaunlich gut zueinander passt, und dazu noch eine tiefere Wahrheit, einen akuten Schmerz erschreckend detailliert und präzise markiert.

Eigentlich hätten wir gestern, als doch zu erkennen war, dass wir kurz vorm Abgrund standen (so zumindest der Witz), noch die Kräfte sammeln und die Richtung wechseln können – doch wir haben weitergewurschtelt wie bisher (und mit »wir« ist heute ja wohl »die da oben« gemeint). »Einen Schritt weiter« in dieselbe Richtung aber, nachdem man »kurz davor« war, das bedeutet ja: im Abgrund drin, unten, abgestürzt, kein Weg zurück – womit wir natürlich (so viel Witz sei erlaubt) bei den Nachrichten des Tages wären!

Wir erinnern uns: Nachdem man zunächst die Corona-Gefahr als »rechte Verschwörungstheorie« herunterspielte (Essay vom 13.3.2020), drehte man um 180 Grad und fachte die Panik im Politik-Staatsfunk-Gleichschritt an, und man nutzte eben diese Panik dann zur »Ermächtigung« (Essay vom 17.11.2020) – und die, welche nun den Pendelschlag von der totalen Ignoranz zum zerstörerischen Lockdown kritisierten, die galten wieder als »rechte Verschwörungstheoretiker«.

Eine Gruppe von Rechtsanwälten hat mit Beharrlichkeit und Anrufung des Berliner Verwaltungsgerichts (siehe @nhaerting, 7.2.2021) die Herausgabe von Unterlagen erzwungen, die Auskunft darüber geben, wie das Innenministerium in der Corona-Krise zu seinen Empfehlungen gelangte.

welt.de, 7.2.2021 berichtet, dass eine Gruppe von Juristen in einer monatelangen juristischen Auseinandersetzung die Freigabe des internen Schriftverkehrs zwischen der Führungsebene des Innenministeriums und beauftragten Forschern des Robert-Koch-Instituts erstritt.

»In der ersten Hochphase der Pandemie wirkte das Haus von Innenminister Horst Seehofer auf Forscher ein«, so welt.de, 7.2.2021, woraufhin diese die notwendigen »Ergebnisse für ein dramatisches ›Geheimpapier‹ des Ministeriums« lieferten.

Hmmm.

So mancher freie Denker warnt seit einigen Jahren schon davor, dass 1984 »nicht als Anleitung gedacht« war. (Und die »Propaganda« des Edward Bernays liest sich wie etwas, das doch nur eine kleine Werbeschrift für die Dienste eben dieses Herren sein wollte.)

Im August 2020 schrieb ich von Deutschland, das »offen in den Propagandastaat abgleitet«, im September 2020 schrieb ich vom Bundestag im Propagandastaat als Ort eines »verlogenen, propaganda-artigen« Schauspiels, und auch im Oktober 2020 hielt ich gewisse Notizen aus demselben Staat fest. 

Wenn ich »Propagandastaat« sag(t)e, dann will (oder: wollte) ich durch diese Zuspitzung vor eben diesem warnen.

Spätestens wenn es so aussieht, dass die Politik konkreten Druck auf »Wissenschaftler« ausübt, die für die Aufhebung von Grundrechten nötigen Szenarien zu liefern, ist »Propagandastaat« nicht nur schlicht ein präziser Begriff – der damit beschriebene Teil der Realität ist nur ein Ausschnitt des Problems.

Propaganda verfolgt stets einen Zweck, und der ist oft, auch hier, die eigentliche und damit größere Gefahr.

Der Ruf der Sarkasten, Orwells 1984 sei nicht »als Anleitung gedacht« gewesen, er klingt schal.

Das metaphorische 1984 steht nicht vor uns, am Horizont der Möglichkeit. 1984 hat auch nicht gerade erst begonnen, nein.

Wir schreiben, metaphorisch gesprochen, heute das Jahr 1985.

Wir sind nicht in 1984, wir sind weiter.

Im Propagandastaat singen Künstler gern das Lied der Regierung (siehe auch »Kulturschaffende 1934, 1976, 2018« vom 22.9.2018).

Im Propagandastaat schalten die Journalisten mental auffällig gleich – und wehe, einer nennt es beim Wort »Gleichschaltung« (siehe Essay vom 5.12.2018).

Im Propagandastaat trifft sich die Regierung 22 mal im Jahr (also etwa alle zwei Wochen) mit der demokratisch genau gar nicht legitimierten, teils aus dem Ausland motivierten PR-NGO, die junge Damen für ihre Lobby-Arbeit vorschickt (welt.de, 7.2.2021).

Im Propagandastaat trifft sich die Herrscherin heimlich mit handverlesenen »Journalisten« zu geheimen »Hintergrundgesprächen« – und will partout nicht sagen, mit wem (tagesspiegel.de, 12.1.2021).

Und: Im Propagandastaat stützt die Regierung ihre Ermächtigung gern auf das Wort der Wissenschaft, denn sie sorgt dafür, dass die Wissenschaft der Regierung sagt, was es für Panik und Ermächtigung eben braucht.

Noch wehren sich Bürger dagegen, dass es ist, wie es ist, wie etwa diese Gruppe von Rechtsanwälten. Und noch wird es auch mal sogar von Journalisten eines Medienkonzerns berichtet.

Doch wir ahnen, was die Lehre sein wird, welche die Regierung in dieser Zeit-ohne-Scham-oder-Rücktritte längst gezogen hat: Dass man damit durchkommt.

Vor einigen Jahren standen wir kurz vor 1984, heute … nun, Sie kennen den Kalender.

Vor einem Jahr schrieb ich einige Essays über das, was in Thüringen geschah, und der Text vom 19.2.2020 heißt »Das Ende der Wahrheit, wie wir sie kannten«.

In jenem Text schreibe ich auch über eine bestimmte Cartoon-Filmfigur: »Wenn Wile E. Coyote über eine Klippe läuft, geschieht es nicht selten, dass er eine gute Zeit einfach in der Luft weiter läuft, und erst wenn er erschrocken ›merkt‹, dass ihn keine Klippe mehr trägt, stürzt er nach einem großzügigen Schreckensmoment dramatisch ab.«

Heute fällt mir an jenem Sinnbild von der über die Kante zum Abgrund laufenden Comicfigur eine Parallele zu einem anderen Klassiker auf, nämlich zum bekannten Anhalter.

Der »Hitchhiker’s Guide to the Galaxy« erklärt die Kunst des Fliegens als die Fertigkeit, sich in Richtung des Bodens zu werfen, diesen dann aber zu verfehlen (siehe auch h2g2.com).

Zu viele Lehren aus den ach-so-ernsthaften Ratgebern erscheinen mir heute erschreckend oft zahn- und hilflos. Ich wende mich also an die Witze, an die animierten Cartoons und Science-Fiction-Komödien.

Ich will mein Bestes geben, die Lehren zu berücksichtigen, die mich Wile E. Coyote und Douglas Adams lehren!

Gestern waren wir kurz vorm Abgrund, heute sind wir ein paar Schritte weiter, doch ich weigere mich, es zu »merken«, ich laufe einfach weiter, und wenn ich so gen Boden geworfen werde, so beschließe ich doch, ihn zu verfehlen.

Deutschland mag ein Propagandastaat sein, doch ich will weiter reden und schreiben – und sogar Witze machen! – als wäre es keiner.

Gestern standen wir noch kurz vorm Abgrund, und solange wir nicht nach unten schauen, solange ist auch heute noch alles in allerbester Ordnung!

Weiterschreiben, Wegner!

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