Dushan-Wegner

16.03.2021

Wo ist der Spieler?!

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Patricia Prudente
Haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass Deutschland von Marionetten regiert wird? Wenn ja, dann sei eine Anschlussfrage erlaubt: Wissen Marionetten generell, was sie tun und warum?
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Stellt euch vor, dass ihr in einem dunklen Theater sitzt. Es ist kein gewöhnliches Theater, es ist ein Puppentheater, genauer: ein Marionettentheater.

Der Zuschauerraum ist dunkel, und die Bühne ist beleuchtet, und doch ist das Geschehen auf der Bühne das eigentlich Rätselhafte – wenn sich in diesem besonderen Fall die Rätselhaftigkeit auch ins Publikum erstreckt.

Es ist wohl eines dieser modernen Mitmachtheaterstücke, wo das Bühnenpersonal mit dem Publikum interagiert (ja, anstrengend, ich weiß), wie man es nur Kindern und dem kindlichen Geist des neuen deutschen Halbbildungsbürgertums zumuten darf (die erwarten das dann aber auch).

Im hier durchgeführten Mitmachtheaterstück besteht die Interaktion vor allem aus Befehlen. Unentwegt erklingen strenge Befehle von der Theaterbühne aus: »Steht auf!«, »Setzt euch hin!«, »Sprecht so!«, und: »So aber sprecht nicht!«

Die von der Bühne ausgehenden Befehle werden im Verlauf des Abends harscher, strenger, doch das Publikum gehorcht und gehorcht – je ärger sie sich zum Gehorsam bücken und biegen müssen, umso besser gefällt ihnen das Stück!

Jedoch, als nicht mehr nur zum Aufstehen und Niedersetzen aufgefordert wird, sondern als dem Publikum befohlen wird, sich die Arme zu ritzen und eine bereitgestellte Medizin einzunehmen, da erwachen erste Publikumsmitglieder aus ihrem Zuschauerschlummer, und sie erwägen, die Folgsamkeit zu verweigern.

»Die auf der Bühne«, so erklärt der Erste, »das sind doch nur Marionetten! Wir sehen doch die Fäden!«

»Wenn es nur Marionetten sind«, so fragt der Zweite laut, »warum gehorchen wir ihnen?«

(»Weil wir den Marionettenspieler fürchten«, so denkt sich einer, doch er sagt es nicht laut, also zählen wir ihn hier nicht mit.)

»Die, die uns Befehle erteilen, es sind fürwahr nur Marionetten!«, so ruft der Dritte, und weiter: »Lasst uns hinter die Bühne gehen, und lasst uns diese Figuren an ihren Fäden greifen!«

Gerufen, getan – eine Handvoll unvorsichtiger Allzurascher im Publikum lässt sich aufwiegeln. Man macht sich zur Bühne auf, und man will an den  Fäden der Marionetten ziehen, die man zu erkennen meint – jedoch, was in dieser Geschichte danach geschieht, davon gehen die Berichte auseinander (nur beim Schluss, da sind sich die Versionen wieder einig).

Der eine Bericht zu jener Begebenheit notiert, dass daraufhin die Marionetten von der Bühne aus in den Raum hinein befahlen: »Wachen, steht bereit!«, woraufhin aus dem Schatten des Theaters die Theaterwachleute traten, dass sie ihre blanken Waffen und ihre kalten Augen blitzen ließen, und dass dann die Aufwiegler schnell wieder still wurden und sich auf ihre Plätze trollten, und dass sie dort zu ihren kopfschüttelnden Sitznachbarn murmelten: »Wir werden uns besser fügen. Es ist alternativlos.«

Eine andere Variante der Geschichte besagt, dass es den Aufrührern durchaus gelang, bis zur Bühne vorzudringen.

Auf der Bühne griffen sie den erstaunlich wenig nervösen Figuren in die Fäden, und sie zogen fest an diesen – doch dann erschraken sie, denn da war gar kein Marionettenspieler zu entdecken!

»Ihr seid doch Marionetten«, so sagten sie zu den Puppen, und fragten frech: »Wo ist nun der, der an euren Fäden zieht?«

Den Marionetten wurde auch von oben an den Fäden gezogen, und zwar derart, dass ihnen die Puppenschultern zuckten, und sie sagten, so leise wie lakonisch: »Woher sollen wir das wissen? Wir sind doch nur Marionetten.«

Als sie keinen Spieler über den Marionetten entdeckten, verließ die Mutigen der Mut. – Verdattert schlichen sich die Aufwiegler der zweiten Version unserer Geschichte auf ihre Plätze zurück, und wie in der ersten Version murmelten auch sie ihren Platznachbarn zu: »Wir sollten uns den Marionetten fügen! Es ist ohne Zweifel alternativlos.«

Fäden verfingen sich

Unser erstes Problem wäre heute nicht mehr, dass wir von Marionetten regiert sein könnten. Das größere Problem scheint zu sein, dass es nicht mal mehr die Marionetten selbst noch wissen, wer ihr Marionettenspieler ist!

Einige Politiker halten ihr privates Würstchen übers öffentliche Feuer, das ihre Partei in Deutschland entzündet hat, das ist wahr, doch was die wirklich großen Linien angeht, da wirken diese Figuren auf der Berliner wie auf der Brüsseler Bühne doch wie vielzugutbezahlte Marionetten – und so sehr sie sich auch mühen, gewiss nicht wie Puppenspieler.

Ja, dieser Tage will der nervöse und doch heitere Verdacht nicht weichen, dass diese Leute nicht nur Marionettenfiguren sind, sondern dass sie selbst nicht wissen, wer es ist, der an ihren Fäden zieht – dass sie wild zappeln, mal hierhin mal dorthin, und selbst nicht mehr wissen, warum sie es tun.

Wenn wir die Metapher von den Marionetten auf der Bühne weiter bespielen wollten, könnten wir sagen: Es gab ja nie nur einen Marionettenspieler – es gab immer viele mit teils in Konflikt stehenden Interessen (und ja, manchmal wollten die Marionetten selbst als Spieler auftreten, und einige Marionetten tun, als wären sie Spieler, auch um abzulenken (ich glaube jedoch aus »weichen« Gründen nicht an das Keyser-Söze-Szenario, also dass sich ein Spieler selbst als Marionette ausgibt)).

Es gab schon immer mehr als einen Marionettenspieler, und ihre Fäden verfingen sich immer und immer wieder (und dann gab es gelegentlich Krieg).

Heute jedoch, so mein Verdacht, heute haben wir einen geschichtlich eher ungewohnten Punkt erreicht, an welchem selbst die obersten Marionetten sich nicht mehr sicher darüber sind, wer es ist, der da an ihren Fäden zieht.

Seit Jahren schon

Wir sind Zuschauer in einem merkwürdigen Theater. Der Zuschauerraum ist dunkel und die Marionetten bellen uns Befehle zu.

Wir wissen nicht, wer es ist, der die Marionetten an ihren Fäden zieht (und wir erinnern uns an die Tao-Weisheit: »Der Name, den du nennen kannst, ist nicht der wirkliche Name«).

Nein, dass wir nicht wissen, wer die Fäden zieht, die wir auszumachen meinen, das ist nicht (mehr), was mich beschäftigt – heute bin ich aus anderem Grund halb nervös und halb erschrocken: Der Verdacht will nicht still werden, dass die, die uns wie Marionetten erscheinen, es auch nicht wissen, wer die Fäden zieht – nicht mehr – seit Jahren schon nicht mehr.

Der Leser fragt: Was tun?

Der Essayist fragt zurück: In Bezug worauf?

Der Leser präzisiert: In Bezug auf die Politik? Und in Bezug auf mein Leben?

Im Bezug aufs Leben antwortet der Essayist so, wie Wissende es erwarten: Ordne deine Kreise!

Im Bezug auf die Bühne aber fragt er wieder zurück: Willst du mit Marionetten argumentieren? Willst du mit Marionetten argumentieren, die selbst nicht mehr wissen, wer an ihren Fäden zieht, die selbst überfragt wären, warum und zu welchem Zweck man sie überhaupt zappeln lässt?

Der Leser will dem Essayisten zustimmen, doch eines plagt ihn noch – er fragt: Was, wenn alle es so tun?

Der Essayist seufzt, und er sagt: Wenn alle es so täten, dann würde das ganze Theater nicht funktionieren. Doch nicht alle werden es so handhaben. Erstmal nur du, ich, und vielleicht noch ein paar.

Der Leser: Und die anderen?

Der Essayist: Groß ist der Drang der Menschen, mit Marionetten zu streiten!

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