Nehmen wir einmal an – der Himmel möge Sie zumindest heute davor bewahren! – dass Sie von schlimmem Zahnweh ereilt werden. Falls Sie sich trauen, selbst den Mund ganz weit zu öffnen und in den Badezimmerspiegel zu schauen, sehen Sie sogar mit bloßem Auge: Da hat sich Karies eingeschlichen! Es tut weh und es hört nicht auf.
Was ist denn die richtige Reaktion auf Zahnweh?
Man würde meinen, dass das doch selbstverständlich sei, aber nein: Die Richtigkeit der Reaktion auf Zahnweh hängt davon ab, was Ihnen in dem Moment am wichtigsten erscheint (sprich: was in dem Augenblick Ihre relevanten Strukturen sind).
Im einfachsten Szenario würde man direkt zum Zahnarzt gehen und den betreffenden Zahn reparieren lassen – doch, es ist nicht die einzige Möglichkeit! Lassen Sie uns andere drei Szenarien durchprobieren, in denen der Schmerzbehaftete eben nicht zum Zahnarzt geht.
1: Das Meeting
Im ersten Szenario haben Sie ein wichtiges Meeting vor sich, gleich in den nächsten Stunden, und es ist keine Zeit mehr, vorher beim Zahnarzt vorbeizugehen. Dieses Meeting, das sich nicht verschieben lässt, wird Ihr Einkommen auf viele Monate hin sichern – wären da nur nicht diese Zahnschmerzen!
Zwei der in dieser Situation relevanten Strukturen:
- Ihr Wohlbefinden im Moment
- Ihr Geldfluss in den kommenden Monaten.
Wofür entscheiden Sie sich? Die einen würden buchstäblich die Zähne zusammenbeißen und vielleicht eine Tablette schlucken; die anderen würden das Meeting platzen lassen, ob sie es sich leisten können oder nicht.
2: Angst vorm Bohrer
Nehmen wir an, dass kein Meeting ansteht und Sie prinzipiell zum Zahnarzt gehen könnten. Der würde Sie auch gleich drannehmen, eine Spritze setzen – und erst einmal bohren!
Wenn man nicht gerade unter Vollnarkose ist, dann merkt man auch mit allen Spritzen noch, dass gebohrt wird. Der Bohrdiamant fräst den Zahn, Sie hören das spitze Geräusch und Ihr ganzer Schädel vibriert.
Die relevanten Strukturen sind:
- Ihr Wohlbefinden im Moment (Zahnweh)
- Ihr Wohlbefinden im Moment des Bohrens
- Ihr Wohlbefinden in der Zeit nach der Behandlung sowie Zustand des Zahns danach.
(In manchen Ländern und unter manchen Umständen kommt noch der finanzielle Aspekt hinzu.)
Es gibt Menschen die werden aus Angst vorm Bohrer versuchen, den Zahnarzttermin aufzuschieben, so lange es irgendwie geht. Dabei nehmen sie Einschränkungen ihres Wohlbefindens im Moment in Kauf (der Zahn tut ja weiterhin weh). Und sie nehmen in Kauf, dass es ihnen später schlechter gehen wird – der Karies frisst sich ja weiter in die Substanz!
3: Das Leugnen
Es ist denkbar, dass Sie – aus welchem Grund auch immer – es einfach nicht wahrhaben möchten, dass der Zahn Ihnen weh tut. Vielleicht würden Sie sich schuldig fühlen, weil Sie wohl die Zähne nicht gut geputzt haben. Vielleicht können Sie sich die Reparatur nicht leisten und Sie wollen sich auch das nicht eingestehen. Vielleicht haben Sie Angst vorm Zahnarzt, wie im obigen Beispiel, doch Sie wollen das nicht vor sich selbst zugeben. In diesen Fällen können Sie versuchen, eine Zeit lang zu leugnen, dass Sie überhaupt Karies und Zahnschmerzen haben!
Sie können sich ja alle mögliche und unmögliche Dinge einreden, etwa: »Das ist nur das Wetter!«, »Das geht schon vorbei!«, oder »Ich habe bestimmt nur schlecht geschlafen!«
Wie lange wird solche Leugnung funktionieren, ob mit oder ohne Ablenkung und Tabletten? So lange, bis der Schmerz trotz aller Leugnung unerträglich ist. Sie hätten viel unnötiges Leid, eine Wurzelbehandlung, viele Folgeschäden und unter Umständen sogar den Verlust des ganzen Zahnes verhindern können, wenn Sie nur rechtzeitig sich eingestanden hätten, dass es ein Problem gibt!
Immer noch? Ernsthaft?
Es ist 2018, ein heißer, schwüler, stürmischer Sommer. Man hätte ja annehmen können, dass niemand noch leugnen kann, dass Deutschland von Merkel, NGOs, Schleppern und leider auch einem Teil der Migranten verarscht wird. (Nicht von allen: Es gibt auch viele tatsächliche Flüchtlinge und grundanständige Migranten, und sie werden ebenfalls zu Opfern linker Realitätsleugnung!) Ja, ich sage »verarscht«. Manchmal braucht es prägnante Worte, wie etwa auch das bekannte Wort »Asyltourismus«. Samtene Höflichkeit, wo die Lage nach Deutlichkeit ruft, ist auch eine Form der Lüge.
2016 habe ich einen mahnenden Text geschrieben, der hieß »Sagt die Wahrheit, sonst tun es die Populisten«. Ich warnte vor den Folgen, wenn Politiker der alten Mitte nicht deutliche und wahrhaftige Worte für die realen Probleme finden. Es geschah, was viele befürchteten. Jene, die den Mut zu klaren, kantigen Worten aufbrachten, gewannen Wahlen, europaweit. Man riskiert als europäischer Politiker heute einiges, wenn man Probleme klar benennt, kein Zweifel. Dass es so ist, könnte in der Tendenz dazu führen, dass nur noch diejenigen die Wahrheit sagen, die nichts mehr zu verlieren haben – und das sind nicht immer die strahlendsten Gestalten, um zumindest dies höflich zu formulieren. Der Bürger aber, der von seinen bisherigen Politikern mit Sprachverboten und »Zeichen setzen« abgefüttert wird, der kam und kommt sich bald »verarscht« vor.
Jenes »Zeichensetzen« wird, trotz aller Durchsichtigkeit, derzeit wieder populärer und doch wirkt es immer verzweifelter. Wer heute noch »Zeichen setzt« (für das moralische Bauchgefühl und gegen die Realität), der wirkt wie ein Cowboy, der keine Kugeln mehr im Colt hat und statt zu schießen nur noch laut Peng, Peng, Peng ruft. Wer wirklich Gutes tut und es durchdacht hat, der muss nicht »Zeichen setzen«. Es ist uralte Heuchelei wie jene, gegen die schon Jesus zu Felde gezogen ist. Noch immer wird fleißig »Virtue Signalling« betrieben, also das geheuchelte Signalisieren hoher Moral unter weitgehender Abwesenheit von Konsequenz oder Verantwortung. Die täglich neuen Empörungs-Hashtags sind schon lange langweilig geworden. Ich will einen anderen, echteren Fall erwähnen: Diese Woche schrieben einige NRW-Städte an die Kanzlerin Merkel, sie solle doch bitte mehr Flüchtlinge aufnehmen – und die NRW-Städte wollten sie offensichtlich aufnehmen. So wie der leugnende Zahnpatient behauptet, es sei nicht so schlimm, leugneten diese Städte wohl, dass sie an die Grenzen ihrer Kapazität stießen. »Ein Signal für Humanität« titelte spiegel.de. Wer nicht alles gerührt berichtete! Was weniger berichtet wird: Nur kurze Zeit später hört man aus Bonn, es sei den Politikern darum gegangen »ein Signal zu setzen« (general-anzeiger-bonn.de, 27.7.2018). Man wolle lieber keine »Zahlen« nennen und auch nicht sein »Flüchtlingskontingent« erweitern. Wen kümmert, was man wirklich tut, wenn man nur sein »Signal« gesetzt hat! Gutmenschen sind wie ein Zahnpatient, der groß tönt, es sei alles nicht so schlimm, und dann heimlich nachts doch noch in die Zahnklinik schleicht.
Es scheint fast unverständlich, wie in 2018 noch immer jemand »Signale setzen« und gegen das allzu deutliche Aussprechen von Wahrheiten zu Felde ziehen kann. (Siehe auch mein Text: Wer vom Framing redet, will nur den Fakten ausweichen) Man demonstriert angeblich unangemessene Wortwahl, man gibt Politikern in der Sache recht, doch kritisiert ihre Formulierung als »populistisch« (neue Totschlagvokabel: »Trumpisierung«).
»Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht«, so sagte Tucholsky – heute kann man ergänzen: am meisten fürchtet man aber den, der auf das Problem hinweist in Worten, die man auch versteht – den nennt man dann einen »Populisten«.
Das Zahnweh geht nicht weg, wenn man sich nur die klaren Worte verkneift. Nein, wenn man sich beim Chef entschuldigt oder in der Praxis ankommt, dann ist es notwendig, klar und deutlich seinen Schmerz zu artikulieren – wie soll die Welt sonst wissen, wie arg das Problem ist?
Wenn man Zahnweh leugnet, wird es nur noch schlimmer. Genauso ist es mit gesellschaftlichen Problemen: Wer verbieten will, darüber deutlich zu reden, der macht alles ärger. Nur wer Probleme klar benennt, kann sie auch lösen!