Dushan-Wegner

08.11.2021

Liebe alle, traue keinem

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
Ich liebe die Menschen, ich kenne sie aber auch, deshalb traue ich keinem so ganz – nicht einmal mir.
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Ende gut, alles gut. Es klingt wahr, doch ist es auch wahr? – Woher ich weiß, dass es gut ist, das weiß ich immerhin (es hat mit relevanten Strukturen zu tun). Woran aber erkenne ich, dass das Vorliegende auch das Ende ist, und nicht etwa ein vorläufiger Zwischenstand? Ach, ich ahne ja, dass ich auch das nicht weiß.

Unsere Enden, die bitteren Niederlagen wie auch die strahlenden Siege, sie sind immer nur ein Zwischenstand. Ja, auch unser eigenes großes Ende, der letzte Szenenabgang, unser Exitus im noch größeren Schauspiel ist auf jener Bühne kaum mehr als ein kleiner Zwischenstand, kaum mehr als ein Komma im ganz großen Drama, ein Ausatmen – und weiter geht es. Die Show muss weitergehen, die Götter mögen keine Langeweile leiden.

Ich kann mich der Frage nach dem Ende nur negativ nähern, wie der Logiker dem logischen Beweis. Einst berichtete ich von der Gewissheit »dass am Ende alles gut wird, und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende«. Ein Trost, wenn auch ein trister.

Wo wir aber von Schauspiel redeten: »Ende gut, alles gut«, das ist der deutsche Titel eines Shakespeare-Stückes, im englischen Original lautet er: »All’s Well, that Ends Well«.

In jenem Problemstück geht es um Helena, die ist Tochter eines Mediziners und ein Waisenkind. Es geht um einen jungen Grafen namens Bertram, von welchem Helena sehr angetan ist – der aber weniger von ihr. Bertram will gleich im ersten Akt in wichtiger Angelegenheit nach Paris aufbrechen, und seine Mutter soll ihren Segen dazu geben.

Als Teil ihrer Glückwünsche sagt die Gräfin: »Love all, trust a few, do wrong to none« – zu Deutsch etwa: »Liebe alle, traue wenigen, tue niemandem Unrecht«.

Es ist mir zu optimistisch.

Ich habe mir jenen Satz angeeignet – und ich habe ihn zusammengestrichen. Das mit dem Unrecht, das ließ ich weg, das behandele ich an anderer Stelle. Was aber das Trauen angeht, also im Sinne von Ver-trauen, da drehe ich heute jene Schraube ganz fest, welche die Gräfin noch allzu optimistisch ein wenig locker ließ.

Traue wenigen, so lässt Shakespeare die Gräfin sagen, doch ich sage: Traue keinem.

Bin ich von Misanthropie getrieben? Verachte ich das Menschliche? Nein, es widerspräche gleich dem ersten Imperativ, dem von der universellen Liebe, dem ich ja zustimme, wo ich die Worte mitspreche und sie meinen will.

Ja, liebe alle Menschen! Lass dich nicht ablenken vom Scheitern edler Absicht! Diese Angelegenheit lohnt sich immer und immer und immer wieder aufs Neue zu wagen, auch wenn vor dir Tausende und Abertausende an ihr verzweifelt und verblutet sind. Zieh dein Schwert, und zieh in diesen Kampf, und zieh keine Schlüsse daraus, dass der Boden des Schlachtfeldes weich und nass ist, und dass es unter deinen Sohlen stöhnt.

Wem sollst du trauen? Wenigen?

Nein. Traue keinem. Traue keinem, nicht einmal dir. Vor allem nicht dir.

Menschen, die heute in allen Dingen dasselbe meinen wie gestern, die zu jeder ihrer Entscheidungen von vorigem Monat oder gar vorigem Jahr stehen, sie sind offenbar nicht klüger geworden. Wer aber nicht fortwährend klüger wird, der ist dauerhaft ein Trottel. Die Welt teilt sich in Wankelmütige und in Trottel – traue keinem!

»Liebe alle, traue keinem«, das sei meine Tageslosung, das schreibe ich mir – und dir – auf die Brust.

Mein Misstrauen ist nicht Misanthropie, sondern Mitgefühl und Mitmenschlichkeit. Wenn du mir eine Frage stellst, dann hat sich zwischen dem ersten Wort deines Satzes und dem Fragezeichen zum Schluss die Erde ja weitergedreht, und wir sind auf ihrer Oberfläche mit durchs Weltall geflogen. Von welcher Welt ausgehend soll ich also deine Frage beantworten?

Ich liebe die Menschen, ich kenne sie aber auch, und deshalb traue ich keinem.

Und doch will ich nicht wahnsinnig werden. Selbst wenn ich mich als Einsiedler in einer Höhle auf halber Höhe des Berges versteckte, so würde ich dennoch in meiner Gegenwart bleiben – ich selbst aber beherberge zu jedem Fakt drei Meinungen oder mehr. Welchem Ich sollte ich trauen?

Ich will nicht wahnsinniger werden, als es notwendig und angenehm ist.

Ich traue keinem, doch ich will vorläufig so tun, als könnte ich trauen. Mein Vertrauen hat Fußnoten, meine Gewissheit wird von allgemeinen Geschäftsbedingungen begrenzt.

Ich besteige dieses Schiff, im Wissen, dass schon ein mittelschwerer Sturm den Kiel nach oben und mich nach unten bewegen wird.

Ich kaufe das Lotterielos, das man »Vertrauen« nennt, im Wissen, dass manche Niete im Spiel ist – denn nicht zu spielen ist die sicherste Art, nicht zu gewinnen.

Ich gehe über die Straße, immer wieder, im Wissen, dass ein einziger abgelenkter Autofahrer meine irdischen Sorgen und Nöte für immer beenden kann.

Traue keinem, und nimm jede Wahrheit als vorläufig.

Am Ende wird es gut, doch weißt du, welches Ende auch wirklich das Ende ist?

Traue den Menschen nicht ganz, doch liebe sie!

Liebe die Menschen, auch wenn sie es nicht verdient haben. Du willst ja auch geliebt werden, und hast du es etwa verdient?

Weiterschreiben, Wegner!

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