Selbst ein Veganer wird anerkennen, dass der Konsum von Fleisch ein elementarer Teil menschlicher Kultur ist – ja, gerade Veganer erkennen es an und kritisieren es dann aber auch! Indem Veganer solche Merkwürdigkeiten wie »veganes Mett« oder »Soyafleisch« kaufen und konsumieren, bestätigen sie indirekt (und wohl ungewollt), wie wichtig der Konsum von Fleisch für Kultur und Psyche ist.
So ähnlich ist es mit der Religion!
Auch ein Atheist wird zugeben, dass Religion wichtig ist für die Entwicklung der Gesellschaft und ganzer Kontinente. Demnächst wird Thilo Sarrazins »Feindliche Übernahme« eine neue (und notwendige!) Debatte über zukünftige Entwicklungen in Deutschland und Europa im Kontext von Religion triggern.
Einige fürchten aus gutem Grund, dass die (neue) Verbreitung von Religion in Europa von genau demselben Effekt begleitet wird, wie es in anderen Weltteilen der Fall ist. Es genügt mir nicht, mich bloß zu fürchten.
Ich will einige unserer eigenen religiösen Ideen beleuchten, die unser eigenes europäisches Denken mit geformt haben. Ich weiß, dass sich viel Gutes in unseren eigenen Wurzeln finden lässt – ganz unabhängig davon, ob man selbst dran glaubt.
Ich aber sage euch
Die biblische Figur Jesus mag für Christen auch Gott sein. Man sollte aber nicht den Einfluss des jesuanischen Denkstils jenseits von Religion unterschätzen! Eine prägende Formulierung von Jesus ist, nach Luther: »Ich aber sage euch!«
Theologen nennen es die »Antithesen«, weil Jesus erst einen aus dem Gedächtnis zitierten Vers der jüdischen Bibel nimmt und dann seine eigene Deutung auslegt.
Schauen wir für einen Augenblick nicht auf die einzelnen Inhalte, sondern auf das Denkmuster!
Jesus als öffentlicher Denker greift einen alten Gedanken auf – und interpretiert ihn neu!
Nicht selten verschärft Jesus die bisherige Deutung. Zum Beispiel, wenn er sagt: » Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« (Mt 5:28; damit zeigt sich Jesus übrigens nicht nur als robust konservativ, sondern auch als auffallend nah am Puritanismus heutiger Netzfeministinnen, die bereits einen Flirt als ahndungswürdigen sexuellen Übergriff verstehen könnten.)
In wenigen Fällen, welche aber besonders gern zitiert werden, kehrt Jesus die bisherige Deutung um, etwa wenn er sagt: »Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!« (Mt 5:44; ein Zyniker könnte anmerken, dass sich dies leicht sagen lässt, wenn man keine weltliche Verantwortung trägt, weder Kinder noch Arbeitnehmer hat, und wenn man im Todesfall nach drei Tagen automatisch wieder zum Leben erwacht.)
Unabhängig davon, wie man zu den Inhalten steht, ist das Denkmuster prägend für das Denken im Westen (den ja manche Leute »jüdisch christlich« nennen).
Nehmt eine alte Idee, respektiert sie – und dann macht man eine neue Idee daraus!
Einer der Gründe, warum Menschen aus dem Rest der Welt nach Europa, Amerika und Australien migrieren wollen, ist der Wohlstand. Der Wohlstand des Westens baut ganz wesentlich auf dem Denkprinzip des »ich aber sage euch«. Man kennt das traditionelle Wissen, und auf diesem aufbauend, es also fortführend und oder durchdacht widerlegend, entwickelt man neue Ideen.
Das wertvollste Unternehmen der Welt, Apple, hat zum Slogan »Think different«, was im Herzen denselben Gedanken formuliert wie das »ich aber sage euch« von Jesus: Wage es, das Andere zu denken!
Liebe deinen Nächsten
»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (z.B. Mk 12:31), ist der eine Bibelvers, den auch jene kennen, welche die Bibel sonst überhaupt nicht kennen.
Jesus wird zurückgefragt, wer denn dieser »Nächste« sei. Jesus scheint einer eindeutigen Antwort auszuweichen. Jesus beschreibt eine Szene, die sich deuten ließe: Dein Nächster ist derjenige, der in Not ist und dir in seiner Not begegnet.
Es ist für den durchschnittlichen Westler kaum vorstellbar, dass anderswo Menschen auf der Straße leiden, während die Passanten über sie steigen. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass man sich für Menschen außerhalb der eigenen Familie, des eigenen Stammes oder auch nur der eigenen Kaste verantwortlich fühlt.
Das deutsche Sozialsystem geht zwar praktisch auf Otto von Bismarck und die damalige Sozialdemokratie zurück. Es lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass die Unerträglichkeit der Ungleichheit auch von christlichem Denken gespeist wird. Wie kann dir dein Brot schmecken, wenn dein Nachbar hungert?
Der Westen, insbesondere Deutschland, wird neu festlegen müssen, was es mit »Nächster« meint – und was das praktisch bedeutet.
Alles hat Kontext: Die Bibel verbietet Schweinefleisch, Mischgewebe aus Wolle und Leinen und einiges mehr. Wir nehmen es heute nicht mehr wörtlich. Die jüdischen Schriftgelehrten erlauben die Scheidung von Mann und Frau, Jesus aber nimmt diese Erlaubnis explizit zurück (Mt. 19:9). All diese und viele weitere Gebote werden heute auch von Christen ignoriert und via »historischem Zusammenhang« annulliert. Sogar das Gebot, das von Jesus direkt vor der Nächstenliebe genannt wird, nämlich Gott zu lieben, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Gemüte und mit aller deiner Kraft, das wird in säkularen Zeiten ignoriert – nur das Gebot zur Nächstenliebe, das wird erstens auf den Staat und politisches Handeln erweitert und zweitens universalisiert. Jesus zumindest war recht klar in einer gewissen »freundlichen Trennung« zwischen dem gläubigen Individuum und dem Staat, vrgl. etwa Mk 12:17 oder Joh 17:36. Jesu Forderungen sind zuerst Forderungen an das Individuum.
Die Nächstenliebe ist wie eine Variable, und wenn ein Mensch in diese Variable gerät (wir ihn als »Nächsten in Not« erkennen), dann springt unser Nächstenliebe-Mechanismus an.
Es gibt im Westen leider Menschen, die diesen Mechanismus manipulieren und ausnutzen, etwa die sogenannte »Bettelmafia«. Mit der Quasi-Industrialisierung von Migration durch Schlepper und NGOs wird der Westen konkret gezwungen, sich selbst aufs Neue zu fragen, wer in der globalisierten Welt der »Nächste« ist – und wer nicht. »Alle«, wie die Linke sagt? Niemand? Wenn nur einige, dann wer und wie viele?
Die praktizierte Nächstenliebe hat zur Stärke des Westens beigetragen. Wir müssen sie dringend auf rationale Füße stellen. Wer unbegrenzt Wasser aus einem See entnimmt, der wird den See austrocknen, und dann hat er gar kein Wasser mehr. Auch Nächstenliebe braucht Nachhaltigkeit!
Ja, ja – Nein, Nein
In den zehn Geboten gibt es die bekannte Aufforderung, vor Gericht nicht »falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten« (2. Mose 20:16).
»Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen«, sagt Jesus in Matthäus 5:37.
Man könnte dem Westen geradezu eine Besessenheit mit dem Sagen wahrer und richtiger Fakten zusprechen.
Eine der spannendsten philosophischen Fragen ist jene, ob man lügen dürfte, wenn man damit ein Menschenleben retten würde (siehe z.B. Immanuel Kant).
Im Kontext des Dritten Reiches wurde die Frage gestellt: Was antwortet man einem Häscher, der an der Tür fragt, ob man Verfolgte versteckt hat? Lügt man – oder sagt man die Wahrheit und gefährdet ein Leben? Der Wert der Wahrheit ist im Westen tatsächlich so hoch, dass es ernsthaft diskutiert werden kann.
Vom Westen inspirierte Naturwissenschaft versuchte, so wahre Aussagen zu sagen wie ihr möglich ist – Stichwort »Wissenschaftstheorie«.
Der typisch christliche »Märtyrer« ist der friedfertige Gläubige, der auf die Frage, ob er sich zu Jesus bekennt, mit »Ja!« antwortet – und es dann hinnimmt, dafür den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden. (Anderswo ist der typische Märtyrer eher z.B. ein Krieger.) So sehr schätzt das Christentum die Wahrheit, dass unsere Heiligen bereit waren, dafür in den Tod zu gehen.
Es ist dringend notwendig, dass wir das Sagen der Wahrheit als Wert an sich neu entdecken. Es wird heute schwieriger werden denn je. Genau jene, die sich heute »Faktenfinder« und »Anti-FakeNews« auf die Fahnen geschrieben haben, sind jene, denen ich am wenigsten vertraue, die Wahrheit zu sagen. Was würden wir nun tun, wenn wir es mit Menschen zu tun hätten, die meinen, aus religiösen Gründen lügen zu dürfen – oder gar zu müssen?
Die Wahrheit so wahr wie möglich zu sagen ist ein Wert an sich. Die Begeisterung für Wahrheit und Klarheit (»Ja, ja – nein, nein«) hat den Westen mit stark gemacht.
Redet klar und wahr!
Du bist, was du isst. Du lebst, wie du denkst. Der Westen hat weniger natürliche Ressourcen als andere Teile der Welt, sein Erfolg basiert auf der Art zu denken, auf seinen Denkwerten. Der Erfolg des Westens basiert auf einigen sehr produktiven Denkweisen.
Drei sehr produktive Denkweisen lassen sich aus der Bibel entnehmen: »aber ich sage euch« (überprüfe das Alte und denke Neues!), Liebe deinen Nächsten (der Mensch in Not, den du triffst, ist eine relevante Struktur), und »Ja, ja – Nein, nein« (rede klar und wahr).
Unser Erfolg basiert auf diesen Werten. Wir sollten sie nicht verlieren und nicht verwässern! Denkt neu! Kümmert euch! Redet klar und wahr!