Dushan-Wegner

31.03.2024

Der Schleier hebt sich – bist du enttäuscht?

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Was ist das da auf der Bühne?«
Die RKI-Protokolle waren im Wortsinne eine »Ent-täuschung« – Täuschungen wurden entfernt. Das Schockierendste an den Protokollen ist aber womöglich nicht einmal deren Inhalt, sondern dass man sich nicht mal die Mühe machte, sie auf »harmlos« zu fälschen.
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Wenn ich dich jetzt bitten würde, eine Liste der Enttäuschungen deines Lebens aufzuschreiben, wie lang wäre die Liste? Und wärest du nach dem bewussten Aufschreiben dieser Liste noch immer derselbe Mensch?

Wenn ich dich fragen würde, ob eine Täuschung loszuwerden begrüßenswert sei, würdest du natürlich bejahen. Und doch wird der Begriff »Enttäuschung« von einem denkbar unangenehmen Gefühl begleitet. Sagt das gar, dass der Mensch lieber ge-täuscht als ent-täuscht werden will?

These: Wer den Film »Matrix« sieht, der hält sich für Neo, den erwachten und befreiten Helden. Das ist insofern statistisch bemerkenswert, als die meisten Mitmenschen wahrscheinlich eher Cypher sind, der Schwache, der alle Prinzipien verrät, um weiter in süßer Täuschung zu leben. Die Illusion des saftigen Steaks statt der öden, aber realen Hafergrütze (siehe YouTube).

Gute Täuschung, böse Täuschung

Elon Musk x-te letztens ein Meme mit dem Text (übersetzt): »Die Welt wird weder schlechter noch dunkler. – Der Schleier, der dich vor der ›Realität‹ schützte, wird gehoben.«

Sollte ein Arzt dem Patienten unter allen Umständen eine potenziell tödliche Diagnose offenbaren? Wer hier schnell »ja« oder »nein« antwortet, ist entweder ein unmenschlicher Ideologe oder hat das ethische Dilemma nicht auf allen notwendigen Ebenen verstanden.

Es sind Situationen denkbar, in denen das Verschweigen einer kritischen Diagnose dem Patienten Unrecht tut. (Hätte er es früher gewusst, hätte er sich besser vorbereiten können.)

In anderen Szenarien ist das kalte Benennen der fatalen Diagnose die eigentlich problematische Handlung, etwa wenn der Patient es vorab explizit nicht wünschte. Oder wenn die Kenntnis der Diagnose wegen der psychischen Konstitution des Patienten alle ohnehin zu erwartenden Schwierigkeiten nur noch verschärfen würde.

Die brutale Diagnose

Das aber ist die Situation, in der wir uns heute alle wiederfinden: Durch soziale Medien, durch wachsende Medienkompetenz einer wachsenden Minderheit und weil Macht und Erfolg die Lügner faul werden ließ, hebt sich der Schleier von der »realen Realität« – und die »Diagnose« ist brutal.

Ich kenne mehr als einen Menschen, der sich nachts schlaflos wälzt ob der Nachrichten, der Weltlage, der Zukunftsaussichten für sich, für seine Kinder, für anderer Leute Kinder.

Dieser Tage wurden etwa die RKI-Protokolle freigeklagt und veröffentlicht. Es war nicht wirklich eine »Enttäuschung«, zumindest nicht im wörtlichen Sinn. Diejenigen, die schon zu Zeiten der Corona-Panik ahnten, dass wir belogen wurden (dass die Deutschen getäuscht werden), denen wurde dies bestätigt. Und die, die sich täuschen ließen, die werden an ihrer Täuschung festhalten, die werden sich nun an die von Politik und Propaganda verbreiteten Desinformation und wirren Verschwörungstheorien halten, hinter der bösartigen Verbreitung der Wahrheit steckten finstere ausländische Mächte.

Aufgeflogen – na und?

Der Inhalt der RKI-Protokolle schockt mich auch nur indirekt. Was mich wirklich schockt, ist die Nonchalance, mit der man nach der Klage diese Protokolle (wenn auch noch immer teilweise geschwärzt) herausgab, und sich nicht einmal die Mühe machte, eine weniger inkriminierende Version zu fälschen. (Verschwörungstheoretiker könnten die These aufstellen, dass das bereits die weniger inkriminierende Version ist, doch als gute Popperianer verwerfen wir unwiderlegbare Thesen als metaphysisch.)

Ob die RKI-Protokolle, ob in den USA via Freedom of Information Act (FOIA) immer wieder veröffentlichte CIA-Dokumente oder das offen demokratiefeindliche Handeln von Innen- und Familienministerium in Deutschland – die (westliche) Politik hat hingenommen, dass »der Schleier sich hebt«.

Die Politik hat begriffen, dass Masse und Mehrheit nach dem Fake-Steak betteln werden (metaphorisch im Sinne von »Matrix«, ich meine nicht die euphemistisch als »Laborfleisch« verkauften Tumore). Sprich nur genug angsteinflößende Wahrheiten aus, und die Menschen werden wieder um Lügen betteln.

Nicht das Getäuschtwerden schmerzt, sondern des Getäuschtwerdens gewahr zu werden: die Enttäuschung.

Wo »ideale Gesellschaft« draufsteht

Als ich fragte, wie viele weiße Blätter du bräuchtest, wie viele Seiten im Tagebuch der Bitterkeit und Lektionen, da konntest du vermutlich nicht anders, als im Geist einige Enttäuschungen aufzulisten. Dann hast du abgebrochen – die Übung schmerzte eh, und der Text geht ja weiter.

Jeder Mensch, der je gelebt hat oder der noch lebt, konnte und kann eine Liste seiner Enttäuschungen schreiben. Ich merke aber, dass in meiner persönlichen Liste von Enttäuschungen heute eine Kategorie von Enttäuschungen auftaucht, die ich eher bei Pubertieren(den) und naiven, jugendlichen Weltverbesserern vermuten würde: Enttäuschung über die Gesellschaft.

In der Schule im beschaulichen Köln-Sülz hatte ich einst von all diesen Werten und Idealen gelernt, wie der Mensch sich in der Gesellschaft verhalten sollte, wie eine Gesellschaft beschaffen zu sein habe und so weiter.

Ich naiver Jüngling ging davon aus, dass ich all das zwar lernen musste – ich war ja noch relativ neu auf diesem Planeten –, dass die Erwachsenen all diese Werte jedoch verinnerlicht hätten. Dass sie nicht wie willige Schafe ins Schlachthaus marschieren würden, dass sie sich nicht von vulgär gemachter Propaganda verführen lassen würden. Dass deutsche Politiker nicht wieder mit den Mitteln der Demokratie ebendiese von innen demolieren würden und so weiter. (Ich klinge mir hier ja selbst schon wie ein larmoyanter Teenager beim ersten politischen Erwachen.)

Immerhin Klarheit – oder?

Die letzten Jahre waren wahrlich in diesem Sinne reich an Ent-täuschungen. Doch der Enttäuschte kann stets sagen: Immerhin ist jetzt Klarheit.

Ich schreibe diesen Text am Ostersonntag des Jahres 2024.

Früher waren die Ostertage auch die Tage politisch linker Friedensmärsche.

Heute sind sie es immer noch, doch heute kann die »Deutsche Kommunistische Partei« mitmarschieren und der Staatsfunk würde dennoch insinuieren, die Friedensmärsche seien »von rechts unterwandert« (vergleiche @OERRBlog, 30.3.2024). Es hat aber auch eine innere Logik: Kanzler Erinnerungslücke hat mit »gerechter Frieden« gerade eine neue Variante des Orwell-Slogans »Krieg ist Frieden« vorgelegt (@Bundeskanzler, 30.3.2024). Im deutschen Propagandasprech ist »rechts«/»rechtsextrem«, wer der Regierung widerspricht. Wenn also der Regierung nach Krieg ist, gilt der Wunsch nach Frieden (im Sinne von »Abwesenheit von Krieg«) als »rechts«.

So wichtig diese Fragen sind, ich selbst suche zuerst nach einem anderen Frieden. Nach einem Frieden, den ich realistisch(er) selbst herbeiführen kann.

Ich will heute Frieden mit meinen Enttäuschungen schließen. Ich will mit dem Schrecken leben lernen, zu sehen, was ans Licht gelangt, wenn der Schleier sich hebt.

Weiterschreiben, Wegner!

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