Ich lese die Nachrichten, jeden Tag, selbstverständlich. Und mit kalter Selbstverständlichkeit werden dort Dinge geschrieben, die so schrecklich sind, so unmenschlich, dass ich sie nicht wiederholen will. Wer weiß, der weiß, und wer nicht weiß, der ist zu beneiden.
Doch neben der reinen Schrecklichkeit der einzelnen Nachricht schockiert mich eine zusätzliche Ebene. Ich beschrieb sie zuletzt mit dem Bild des Mannes, der aus dem Fenster im zehnten Stock fällt. Zunächst ist die Aufregung groß. Bald aber beginnt das Vorbeirauschen der Stockwerke ihn zu langweilen.
Mich schockiert an jedem Heute neu, dass und wie sich »die Lage« immer wieder so anfühlt wie die Lage am Vortag. Und ich stelle fest, dass die Metapher vom Fallen aus dem zehnten Stock zwar die Situation beschreibt, aber wenig Lösungen anbietet.
Schmerzhafter Kreislauf
Wir Westler sind immer so zielgerichtet, ob das Ziel nun das Himmelreich oben oder die Gehwegplatte unten ist. Es könnte aber ratsam sein, sich für unseren Zustand metaphorisch bei den Asiaten zu bedienen. Die haben ein Bild für die ewige Wiederkehr des Schmerzes: das Samsara.
Das Samsara hat kein Ziel. Es ist ein Kreislauf. Doch der Mensch im Samsara kann und soll dafür umso mehr ein Ziel haben, nämlich sich selbst zu befreien – sich zu erlösen.
Nennt mich »dramatisch«, doch unsere Lage scheint mir so verfahren zu sein, dass wir heute auf nichts weniger als »Erlösung« hoffen – Erlösung und, ja, Erleuchtung.
Lasst mich erklären!
Hoffnung und Erlösung
Zwei Arten von Hoffnungen plagen den Menschen: die positive und die negative. Die positive Hoffnung, dass etwas der Fall sein soll – und die negative Hoffnung, dass der Fall sein soll, dass ein bestimmter Zustand nicht der Fall ist.
Früher zumindest hofften die Kinder, erwachsen zu werden. Das ist eine positive Hoffnung.
Dann hoffen die Erwachsenen, bald wieder etwas von den Pflichten des Erwachsenseins abgeben zu können – eine negative Hoffnung. Die letzten Hoffnungen dann, die Befreiung von den Schmerzen des Körpers – Krankheit – wie auch den Schmerzen der Seele – Sünde –, nennt der Mensch »Erlösung«.
Doch auch wir, die wir uns die aktuellen Nachrichten antun, bräuchten eine Erlösung!
Erlösung von der Geisteshaltung, die all dies zuließ. Ach, gönnen wir uns doch heute etwas Brutalität: Wir bedürfen der Erlösung von uns selbst.
Der Mensch, der nach rechtzeitiger Erlösung ausreichend Zeit und Muße findet, sich umzusehen, der findet dann das, was man »Erleuchtung« nennt.
Unterschiedlich im Gleichen
Zwischen der täglichen Mühe auf dem Acker des Menschlichen – gebückt und den Blick auf die Krume geheftet – und der Erleuchtung – den Blick klar und gerade – liegt vor allem Entrümpelung.
Der Erlöste und der Erleuchtete leben in derselben Welt wie der Verlorene und der Blinde, doch sein Kopf wurde entrümpelt, von Lügen und Illusionen und Ablenkung befreit.
Ja, wir brauchen Erlösung. Und nein, ich meine hier nicht die Erlösung der Christen (auch wenn ich ihr nicht widerspreche). Ich meine keine Religion, und ganz sicher rufe ich an dieser Stelle nicht nach einem »Erlöser«, ob irdisch oder überirdisch.
Entrümpeln und leben!
Ich meine die Selbsterlösung im Sinne des Buddhismus: die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Die harte, schmerzhafte Arbeit der Selbstbefreiung von Lebenslügen und toxischen Gewohnheiten.
Freunde, Bürger, Menschen: Ihr braucht Erlösung! Wir brauchen Erlösung. Wir brauchen geistige Entrümpelung. Sagen, was wirklich ist, ignorieren, was ablenkt und so das Leben raubt.
Wir brauchen den Mut zu tun, was notwendig ist, um auch morgen noch zu sein – und uns schon heute nicht schämen zu müssen.