Dushan-Wegner

30.09.2023

Indefinit (Teil 1)

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
Stell dir vor, du wachst nichts ahnend auf, und du stellst fest, dass dein Bett mitten auf der Straße steht. Autos stauen sich, wollen an dir vorbeifahren. Was tust du als Nächstes? (Erster Teil einer Kurzgeschichte)
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Die Autos hupten cholerisch. Karl wurde gestoßen, dann gerüttelt. Jemand schrie: »Was soll das denn?!«

Karl wachte auf.

Autos hupten. Ein Bärtiger mit Schnaps im Atem stand über Karls Bett und rüttelte den Erwachenden.

Der Bärtige rüttelte und nölte Karl an, feine Tröpfchen des Schnaps-Spucke-Gemisches versprühend: »Was soll das? Ja, was soll das denn?!«

Karl hielt seine Bettdecke fest. Er schaute sich vom Kissen aus um, und ihm wurde übel, nicht nur des Bärtigen wegen.

Karls Bett stand mitten auf der Straße, die vor seinem Haus entlangführte.

Autos stauten sich und hupten. Wütende Autofahrer versuchten, an Karl und seinem Bett vorbeizumanövrieren.

Auf dem Gehweg sammelten sich Menschen, die Karl und sein Bett anglotzten. Einige lachten. Andere schimpften. Wieder andere filmten Karl, das Bett und den Stau.

Karl fragte nicht, warum er mit seinem Bett auf der Straße stand. Dieser Frage würde er später nachgehen müssen.

Karl war, so fand er, ein Problemlöser. Er analysierte die Situation: Sein Bett stand auf der Straße. Er schloss auf den Konflikt: Betten gehören für gewöhnlich nicht auf die Straße. Daraus ergab sich die Lösung: Das Bett müsste von der Straße weg. Optimalerweise zurück in Karls Schlafzimmer.

Karl musste aufstehen.

Unter der Decke trug er nur Boxershorts. Das ließ sich jetzt nicht ändern. Es musste als Bekleidung genügen.

Karl befreite sich von der Rüttelei des Bärtigen, um sich aufzusetzen. Der Bärtige aber wandte sich um und verkündete der Menge, was diese doch selbst sehen konnte: »Er steigt aus seinem Bett!«

Applaus.

Jemand rief ironisch: »Bravo!«

Die Autos hupten ihre Zustimmung.

Karl stieg aus seinem Bett. Der Asphalt stach in seine nackten Füße. Er war halb nackt, und ihn fröstelte. Er überlegte, die Decke umzulegen, doch er brauchte Bewegungsfreiheit.

Karl versuchte, sein Bett in Richtung des Gehwegs zu ziehen.

Es ist überraschend schwer, ein Bett über den rohen Asphalt der Straße zu ziehen. Zum Glück boten sich schnell mehr als genug starke Männer an, das Bett anzuheben und von der Straße zu tragen.

Just in dem Moment aber heulte eine Sirene auf, und ein Polizeimotorrad samt Polizisten parkte neben Karls Bett.

Motorrad und Polizist sahen reichlich futuristisch aus. Ein solches Design hatte Karl noch nie gesehen. Andererseits hatte Karl noch nie ein Polizeimotorrad näher studiert.

Der Polizist nahm seinen Helm nicht ab. Dafür bellte er durch Lautsprecher an seinem Motorrad die Männer an, die das Bett wegtragen wollten: »Stopp! Das Bett absetzen und nicht bewegen.«

Die Männer setzten das Bett brav wieder ab, und sie hielten inne, als würden sie weitere Befehle erwarten.

Karl wollte sich dem Polizisten erklären, doch er hatte keine Erklärung parat. Karl fror, und es juckte ihn am Rücken.

Die Umstehenden glotzten ihn nun mit einem wieder anderen Blick an, und sie waren allesamt still geworden.

Einigen Gaffern stand der Mund offen. Einige vergaßen sogar das Filmen.

Ein Kind weinte, eines schrie angeekelt. Irgendein Idiot lachte.

Das Jucken wurde schmerzhafter. Karl verrenkte sich, um sich über die Schulter hinweg am Rücken zu kratzen. Dann juckte es ihn am Bauch, also kratze er sich am Bauch, doch etwas stimmte nicht.

Karl betrachtete seine Finger. Da war Blut an seinen Fingern, sein eigenes Blut.

Der Polizist hatte aus einem Fach an seinem Motorrad eine silberne Decke genommen und aufgefaltet. Er wandte sich Karl zu und befahl durch die Lautsprecher: »Stopp! Nicht kratzen!«

Karl wurde schwindelig. Er wollte sich an seinem Bett festhalten, doch er griff daneben.

Karl schwankte und fiel, doch der Polizist fing ihn auf. Er hatte bereits eine silberne Decke auf Karls Bett ausgebreitet, in die er Karl einwickelte.

Karl lag nun wieder. Der Himmel über ihm war fröhlich blau mit lustigen Wolken. Die hatten nichts mit alledem zu tun.

Sein Bewusstsein kam und ging, so wie Atemzüge kommen und gehen.

In den Momenten des Bewusstseins juckte Karls Körper. Es brannte, es schmerzte, zugleich glühend heiß und tödlich kalt. Er wollte sich kratzen, doch seine Arme waren wohl gefesselt.

Bei etwa jedem zweiten Aufflackern seines Bewusstseins sah Karl nicht den unschuldigen Himmel, sondern sich selbst. Karl betrachtete sich selbst, in Silberfolie gewickelt, auf seinem Bett liegend, das noch immer auf der Straße lag.

Einmal betrachtete er sich selbst durch die Augen des Polizisten. Er blickte durch das elektronische Visier und sah Zahlen und Symbole durchlaufen.

Einmal betrachtete er sich durch die Augen des Bärtigen. Karl stellte fest, dass der Bärtige stark kurzsichtig war.

Das Flackern wurde hektischer, die dunklen Pausen dazwischen länger. Beim letzten Flackern aber, bevor es um ihn dunkel wurde, sah er sich wieder durch die Augen des Polizisten.

Karl sah blutige Flecken auf seinem Gesicht. Die waren neu.

Karl sah seine gefesselten Arme unter der Silberfolie zucken.

Er sah auf dem Display, dass der Polizist mit seiner Zentrale sprach.

Die Stimme des Polizisten dröhnte in Karls Kopf, als jener in sein Funkgerät raunte: »Wir haben hier noch einen. Diesmal Bett auf Straße.«


Fortsetzung: Indefinit, Teil 2

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Indefinit (Teil 1)

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