Dushan-Wegner

01.10.2023

Indefinit (Teil 2)

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten
»Jeder Mensch stieß irgendwann an seine Grenzen. Nur waren einige gefährlicher als andere. Und während ein Weiser seine Grenzen kannte, war Dummheit grenzenlos.« (Tom Clancy)
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Die ist der zweite Teil der Kurzgeschichte »Indefinit«. Lesen Sie bitte unbedingt hiervor den ersten Teil: Indefinit (Teil 1)

Als Karl das nächste Mal erwachte, spürte er mit geschlossenen Augen eine weiche Wärme um seinen Körper.

Er wollte seine Hände bewegen, und diese waren nicht mehr gefesselt, doch er fühlte zähen Widerstand. Karl spürte etwas in seinem Hals, wohl ein Schlauch, doch es tat nicht weh.

Karl versuchte, die Augen zu öffnen, doch seine Augenlider gehorchten ihm nicht.

Er versuchte, tief einzuatmen. Seine Nase war blockiert, doch durch den Schlauch gelangte genug Luft in seine Lunge.

Karl versuchte, etwas zu hören, doch seine Ohren registrierten nur das Rauschen seines eigenen Blutes.

Karls Erwachen musste einen Alarm aktiviert haben, denn durch die geschlossenen Augenlider hindurch nahm Karl wahr, dass es um ihn hell wurde.

Mit der Helligkeit setzten endlich auch Geräusche ein. Etwas klang dumpf und mechanisch. Flächen rieben aneinander. Eine Pumpe lief an.

Dann, endlich, menschliche Stimmen. Unverständlich und gedämpft, aber eindeutig menschlich.

Karl hatte in einem Gel gelegen. Das Gel wurde nun abgepumpt, sodass sein Kopf frei lag.

»Hallo Karl«, sagte eine weibliche Stimme, »Die Geräte zeigen mir, dass du wach geworden bist. Ich werde jetzt erst einmal deine Augen befreien.«

Karl erkannte die Stimme!

Das war Anna, er kannte sie schon seit Kindheitstagen. Sicher, man hatte sich über die Jahre aus den Augen verloren, doch jetzt befreite sie ihm eben diese! Nein, diese Stimme würde Karl nicht vergessen. 

Karl spürte Annas Hände, die eine Vorrichtung von seinen Augenlidern entfernten und das Gel zur Seite wischten.

Endlich öffnete er die Augen. Er traute sich noch nicht, den Kopf zu bewegen, doch er sah, dass vor ihm vier Personen in silbernen Schutzanzügen und klinischen Masken standen.

Eine der Personen war wohl Anna, die ihm die Augen geöffnet hatte. Im Schutzanzug und hinter der Maske war sie kaum zu erkennen.

Eine zweite Person sprach, eine männliche Stimme, passend zur Brille und Augen über der Maske.

»Guten Tag«, sagte der Mann, ohne von seinem elektronischen Tablet aufzublicken, »Sie sind jetzt und hier in Sicherheit. Wir denken, dass wir alles so weit im Griff haben. Wenn Sie keine Fragen haben, gehen wir mal zur Beobachtung über.«

Natürlich hatte Karl durchaus Fragen! Etwa die Frage, wo er sich befand. Oder die Frage, warum er bitteschön in Gel lag.

Doch Karl konnte nicht einmal röcheln, geschweige denn fragen.

»Er kann nicht sprechen«, sagte Anna zu dem Mann mit dem digitalen Tablet. »Karl ist intubiert.«

»Sie kennen ihn?«, fragte der Mann mit dem Tablet, schon auf dem Weg nach draußen. »Ach ja, nun gut. Entfernen wir das doch!«

Wortlos machten sich die verbleibenden zwei Personen in Silberanzügen daran, den Tubus aus Karls Hals zu entfernten. Man ließ die Luft aus der Manschette ab, die den Tubus festhielt, und zog den Apparat langsam heraus. Dann entfernten sich auch diese beiden Männer. 

Anna blieb und tupfte Karls Gesicht ab.

Karl schnappte nach Luft.

Annas Hände waren durch medizinische Handschuhe geschützt. Sie fasste ins Gel und griff nach Karls Hand.

»Versuch, ruhig zu atmen«, sagte Anna.

Karl atmete, so gut er konnte. Er hatte ja keine andere Wahl, doch es tat in der Kehle weh. 

Er wollte sprechen. Er wollte fragen, wo er war, doch es gelang nicht. 

Anna sah, dass er um Sprache rang, und erklärte: »Ach ja, wir haben deine Stimmbänder etwas ruhiggestellt, um dich zu schonen.«

»Meine Stimmbänder gelähmt?«, wollte Karl schreien, doch es kam nur ein Hecheln. »Um mich zu schonen?«

»Du wirst gleich sehen«, sagte sie.

Im Gel drückte Anna seine Hand. Karl sah aus der Nähe eine Narbe an der Seite ihres Halses. Er fragte sich, was für ein Unfall ihr widerfahren war.

»Das hier ist eines der Labore zur Beobachtung der Indefinit-Vorfälle«, erklärte Anna. »Wir sind unter der Erde, einigermaßen in Sicherheit, so hoffen wir. Du hattest Glück, dass die Symptome bei dir so sauber angeschlagen haben. Und dass es dir im Bett passierte, da gab es schon ganz andere Fälle, mit Piloten und so.«

»Was für Vorfälle?«, wollte Karl fragen, doch Anna erriet seine Gedanken.

»Indefinit-Fälle«, sagte sie, »Entgrenzung. Die Grenzen lösen sich auf, Regeln fallen auseinander. Manchmal ist es fast schon lustig, zum Beispiel wenn das Bett plötzlich auf der Straße steht. Und dann ist es schlimm, etwa wenn sich die Haut auflöst, sich quasi der Körper ›entgrenzt‹.«

Karl wurde bewusst, dass seine Haut nicht mehr schmerzte, wie zuletzt, als er auf der Straße im Bett wachgeworden war, kurz bevor es dunkel um ihn wurde.

»Das Gel stoppt die äußeren Indefinit-Ereignisse des Körpers«, sagte Anna, »es greift in die Zellkerne der Epidermis ein, dreht die Indefinit-Prozesse wieder zurück. Wir haben dir auch Mittel injiziert, um die Grenzen der Organe zu halten.« 

Anna zog ihre Hand aus dem Gel und trocknete sich mit Papiertüchern ab. Dann beobachtete sie schweigend sein vom Gel bedecktes Gesicht, als wartete sie auf etwas.

Karl sagte nichts, weil er nichts sagen konnte. Und plötzlich war er sehr dankbar, dass er nichts sagen konnte, denn in seinem Kopf formten sich plötzlich vulgäre Sätze, die obszöner und schamloser waren als alles, was Karl je gesagt hatte.

Die Sätze handelten von Anna. Die Sätze handelten von ihm und seinen nächsten Verwandten. Die Sätze handelten von Vorgängen, die er sich bis dahin niemals hätte vorstellen können. Noch während er diese Sätze dachte, schämte sich Karl dafür zutiefst. Er ekelte sich vor sich selbst, mit jedem Satz mehr. Er war so wütend auf sich, wie er machtlos war.

Anna nickte. Sie sah das Leid in Karls Gesicht. Dann sagte sie: »Wenn das Bewusstsein einsetzt, greift Indefinit aufs Gehirn zu. Und da können wir bisher wenig ausrichten, ohne noch schlimmere Schäden anzurichten.«

Hilflos zappelnd versuchten Karls Hände und Arme, im zähflüssigen Gel nach etwas zu greifen.

Anna sah seinen inneren Kampf. Tränen stiegen ihr in die Augen. 

»Hiernach kommen noch zwei Stufen«, sagte Anna, doch Karl hörte sie nicht mehr.

In seinem Gehirn dröhnten solche Sätze und Gedanken, von denen, wenn man sie öffentlich aussprechen würde, jeder einzelne zu einer langjährigen Haftstrafe führen würde. Es war wohl wirklich gut, dass sie ihm die Stimmbänder für den Augenblick gelähmt hatten.

Aus einem versteckten Winkel seines eigenen Verstandes hörte Karl seine üblen Worte – und hatte Angst. Die hilflose Panik eines gefolterten Kindes, das nicht versteht, was mit ihm geschieht.

Inzwischen ergaben die Flüche in Karls Kopf nicht einmal mehr einen Sinn. Karl merkte auch das, und die Panik stieg weiter, was die obszönen Worte umso zusammenhangloser werden ließ.

»Wir sehen uns auf der anderen Seite«, flüsterte Anna für sich selbst, »wenn du es hinüberschaffst, Karl.«


Fortsetzung und vorläufiger Abschluss: Indefinit (Teil 3)

Wie geht es weiter?

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