Dushan-Wegner

16.12.2021

Schach, Milchzähne und (kein) großes Tapfer

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Kevin Green
»Mutig« und »tapfer«, das hört sich alles gut an, klar. Doch immer nur Mut macht müde. Wir könnten ja mit unserem Mut haushalten – um dann mutig sein zu können, wo Mut unser eigenes Leben zum Besseren verändern kann.
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Ich muss aufpassen, seit einiger Zeit schon. Einmal nicht aufgepasst, und schon ist ein Turm weg oder sogar die Damen, oder es heißt gleich mit lautem Siegesgeheul: »Schachmatt, Papa!«

Unser Sohn Leo ist 11 Jahre alt und er verzeiht beim Schach keine Fehler – keine. (Peinlich, wenn f2 bzw. f7 ungeschützt bleiben – Schäfermatt!)

Wenn ich gewinnen will, dann muss ich tatsächlich aufs Neue lernen, strategisch vorzugehen, mehrere Züge im Voraus zu planen und etwas vorzubereiten, sei es die teuflische Springergabel oder das fein eingefädelte Abzugsschach.


Man lernt fürwahr von seinen Kindern und durch seine Kinder, doch gestern lernte ich (neben dem mehr oder weniger würdigen Verlieren) einen neuen Spruch, den unser Sohnemann sich ausgedacht hatte – und den ich ab sofort in meine Lebensphilosophie einbaue.

Als wir gestern wieder so spielten, und ich einigermaßen zermalmt wurde, pausierte der Herr Sohn plötzlich, und er gab sich kurz Zungenakrobatik hin. Einer seiner allerletzten Milchzähne wackelt.

Seine Klassenkollegen, so berichtete er, würden sich schon mal die Milchzähne selbst ziehen, als wäre das für die ganz normal. Er aber, das gibt er zu, würde sich das nicht trauen.

Unser milchzahnwackelnder Philosoph erklärte mir dann, während er bereits die nächste Schachdemütigung für den alten Vater vorbereitete, sein neues Lebensmotto.

Es ist auf Englisch, und es lautet: »Big brain, not big brave.«

Zu Deutsch etwa: »Großes Gehirn, nicht großes Tapfer.« (Ja, »tapfer«, nicht »Tapferkeit«, das ist Teil des Charmes.)


Der Sohn erklärte also, er sei, zumindest seinen Milchzahn betreffend, überhaupt nicht tapfer. Und er hatte wenig Probleme damit, seine Untapferkeit zuzugeben!

»Big Brain, not big brave« – ich finde das charmant, und ich beschloss sogleich, das auch in meine eigene Lebensphilosophie einzubauen.

Ich bin jedoch ein Grübler, und ich bin aufrichtig bemüht, meine Überzeugungen kohärent zu halten. Die Überzeugungen ob der Fakten dieser Welt wie auch die Überzeugungen ob meiner eigenen Werte.

Wie passt die selbstbewusste Absage ans Tapfere zu meinen bald täglichen Versuchen, mir wie Ihnen immer wieder Mut zuzusprechen?

Zuletzt etwa vor zwei Tagen, im Essay vom 14.12.2021, rief ich zum Mut auf (dort war es der Mut, sich zum »Normalsein« zu bekennen). Immer wieder rufe ich uns zum Mut auf, selbst zu denken, sich seine eigene Meinung zu bilden, für sich selbst zu entscheiden und seine Hoffnung aus der eigenen, mutigen Handlung zu beziehen.

Ich habe ein Problem mit der sogenannten »Toleranz«, insofern als es ein Codewort ist fürs Ertragen der Ungerechtigkeiten und blanken Dummheit, die Linksideologen und Heuchler über andere und schutzlose Menschen bringen, um sich selbst als ach-so-moralisch zu preisen.

Die gute Tapferkeit aber, die Furchtlosigkeit vor einer wichtigen Zumutung, die ist doch zu loben, denn manches Wünschenswerte liegt doch hinter einem Wall harter Zumutungen, um uns zu prüfen, um uns an eben diesen wachsen zu lassen.

Und doch gefällt er mir gut, dieser Spruch: »Big brain, not big brave!«

Es ist kein Widerspruch zum Hurra auf den Mut. Es ist eher, so meine ich, ein Fall von Erkenntnisgewinn durch Synthese aus These und Gegenthese.


Wenn ich hier und heute von Mut oder von Tapferkeit spreche, dann meine ich in etwa die in der Tat belegte Bereitschaft, aus tiefer Überzeugung oder Aussicht auf Erfolg eine bestimmte Handlung auszuführen, deren Misslingen vom Handelnden einen hohen Preis einfordern wird. (In diesem Sinne ist auch Denken eine Handlung, und auch deren Misslingen kann einen hohen Preis nach sich ziehen, beginnend damit, vor sich selbst als Trottel dazustehen.)

Mut ist kein Selbstzweck, und immer nur Mut zeigen zu müssen, das kann müde machen. Soll der Zahn sich doch rauswackeln, wenn er sich rauswackeln will – Tapferkeit ist kein Selbstzweck, und der unüberlegte Schachzug verliert sinnlos Material.

Jede mutige Handlung ist mit einem Risiko behaftet – sonst wäre sie nicht mutig – und dieses Risiko addiert sich beim Dauermutigen, bis es zur akkumulierten und damit sicheren Gefahr wird. Wer sich ständig aus dem Fenster lehnt, fällt irgendwann heraus.

Natürlich bin ich für den Mut – ich bin für Mut in einer Sache, die mir wirklich wichtig ist.


Es braucht und beweist wohl auch Mut, ganz offen zu bekennen, dass man oft genug nicht tapfer ist, dass man nicht erträgt, dass man sich nicht mutig jede beliebige Gefahr antut.

Ja, Mut auch zur Feigheit – und dafür dann Mut an der richtigen Stelle.

Ich für meinen Teil empfehle mir, mit meinem Mut vorsichtig zu haushalten, um dann anderswo an der richtigen Stelle wirklich mutig zu sein, und zwar dort, wo Mut mein Leben und das Leben meiner Lieben konkret zum Besseren ändern kann.

Oder, wie Leo es sagt: Big brain, not big brave!

Weiterschreiben, Wegner!

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