Dushan-Wegner

29.04.2023

Löwe, Affe oder Nacktschnecke

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Was guckst du, Schaf?
Alle wollen sie der Löwe sein, stolz und mächtig. Oder der gefährliche Wolf, klar! Zumindest schlau und gerissen wie der Fuchs. – Warum bloß benehmen sich so viele wie brave Schafe?
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In seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund lässt Dostojewski den, äh, Protagonisten sagen: »Sobald sie dir zum Beispiel beweisen: dass du von einem Affen abstammst, brauchst du nicht mehr zu schimpfen, sondern akzeptierst es als Tatsache.«

Ich frage mich: Wie würden wir reagieren, wenn es plötzlich hieße, dass der Mensch von der Schlange abstammt, vom Kaninchen oder von der Nacktschnecke, würden wir es genauso wahrheitswillig hinnehmen?

Dass der Mensch ein zum Rauchen dressierter Affe sei, so berichtete Kafka (siehe zeno.org). Und ich selbst stellte fest, dass gewisse Politiker gefährlich seien wie ein »Affe mit Maschinengewehr«.

Doch wir stammen bekanntlich nicht wirklich von den modernen Affen ab, wir sind mehr so Cousins! Wir sind Verwandte mit gemeinsamen Vorfahren, und unser Zusammenleben auf der Erde ist eines dieser Familientreffen, wenn das eine Mitglied ganz offensichtlich viel erfolgreicher und also mächtiger ist als die anderen, diese anderen ihn aber trotzdem doof finden – wenngleich sie ihn fürchten.

Überall Schafe?

Doch wir sind auch den übrigen Tieren verwandt und also ähnlich! Baltasar Gracian schreibt: »Mit zwanzig Jahren ist der Mensch ein Pfau; mit dreißig ein Löwe; mit vierzig ein Kamel; mit fünfzig eine Schlange; mit sechzig ein Hund; mit siebzig ein Affe; mit achtzig – nichts.« (siehe auch handorakel.de/276)

Welches Tier bin ich, wer ist mein Verwandter? Bin ich ein Fuchs und als solcher schlau oder bloß verschlagen?

War ich einst Raupe und habe mich nun als Schmetterling entpuppt? Und wenn ja, bin ich auch so flatterhaft und wetteranfällig, wie Schmetterlinge es eben sind?

Ach, ein jeder will der Löwe sein, will Mut und Anmut in die Welt strahlen. Ein Adler, der Wolf, allesamt Raubtiere, und so ist dann doch jeder jedem ein Wolf – oder mehr so ein Karnickel, aber ein blutrünstiges.

Ein wirklich nützliches Tier wie das Schaf, das will kaum einer sein. Dabei hat selbst Jesus die Schafe so gelobt! Schafe allerdings lassen sich allzu gehorsam zur Schlachtbank führen, und da wird ihnen das Fell über die Ohren gezogen. Nein, heute will jeder der Hund sein, und so erleben wir heute überall Schafe, die einander anbellen. Das sind Schlafschafe auf dem Weg zur Schlachtbank – das sind Bellschafe (auf demselbem Weg).

Wissenschaftlich wie logisch

Man hat uns versichert, dass wir vom Affen abstammen, also glauben wir es. Später in jener Passage aus Aufzeichnungen aus dem Untergrund wird erläutert, was mit Menschen geschieht, die dem Menschenbild des Tages zu widersprechen wagen: »Auf mein Wort, sie werden dich anschreien, es hat keinen Zweck zu protestieren: es ist ein Fall von zweimal zwei macht vier!«

Die denken sich die absurdesten Ideen zum Menschsein aus (heute etwa: dass Mann und Frau keine biologischen Kategorien seien, sondern »gefühlt« werden), und sie behaupten, das sei so wissenschaftlich und logisch wie »zweimal zwei macht vier«.

Klar, du könntest protestieren gegen die neuen Theorien über deine Natur, von denen die neuen Wissenschaftler behaupten, dass sie so sicher seien wie das Ergebnis von Zwei plus Zwei. Doch sie werden nicht gegen dich und für sich argumentieren – wie auch? Sie werden dich anschreien!

Ob Affe oder Schildkröte

Im schließenden Kapitel der »Aufzeichnungen aus dem Untergrund« wird prophezeit: »Wir werden nicht wissen, woran wir uns halten sollen, woran wir uns klammern sollen, was wir lieben und was wir hassen sollen, was wir respektieren und was wir verachten sollen. Wir schämen uns, Menschen zu sein – Menschen mit einem echten individuellen Körper und Blut, wir schämen uns dafür, wir halten es für eine Schande und versuchen, eine Art von unmöglichem verallgemeinertem Menschen zu sein.«

Ja, das ist wohl schrecklich präzise. Man steht heute (wieder) unter solchem Druck, die erlaubte Idee vom »guten Menschen« zu verkörpern, dass man sich dafür bald schämen müsste, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein, mit »normalen« Gefühlen und »normalen« Ängsten und mit genau den Veranlagungen, die der jeweilige Körper jeweils mit sich bringt.

Auf also, Mensch! Ob du vom Affen oder von der Schildkröte abstammst: Sei der Mensch, der zu sein du beauftragt bist. Dass du du bist – ach, möge zumindest das eine unbestreitbare Tatsache sein!

Weiterschreiben, Wegner!

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