Dürfen Sie das? Das, was Sie gerade jetzt tun? Oder das – o Schreck! –, was Sie gestern getan haben, durften Sie das?
Und das, was Sie in den nächsten 12 Monaten tun werden, mal unter uns – was ist Ihre Rechtfertigung dafür?! Sie wissen schon, was ich meine – genau das, woran Sie jetzt denken!
Vielleicht weisen Sie die Frage nach Ihrer Rechtfertigung zurück. Sie klingt aggressiv und übergriffig, das gebe ich zu. Vielleicht versuchen Sie auch, die Frage zu beantworten, stammelnd oder selbstbewusst.
Egal, wie Sie reagieren: Die Antwort wird Ihnen immer viel über Sie selbst verraten.
Doch zuerst: Wir alle meinen zu wissen, was es bedeutet, dass jemand keine Rechtfertigung oder eine sehr solide Rechtfertigung für eine Tat vorweisen kann, doch was genau bedeutet „Rechtfertigung“?
Eine Handlung rechtfertigen zu können, das bedeutet, eine Handlung als „berechtigt hinstellen“ zu können (siehe duden.de).
Oder sogar angeordnet
„Darf er das?“ ist eine der spannendsten Fragen in allen Staatsformen. In Theokratien muss man rechtfertigen, ob und wie ein Gott eine bestimmte Handlung erlaubt oder sogar angeordnet hat.
In konservativen Gesellschaften muss man angeben, inwiefern eine Handlung sowohl dem Gesetz als auch dem Erhalt der Gruppe dient.
In modernen woken Gesellschaften, in welchen Konzerne eine menschenfeindliche Fake-Moral vorgeben, müssen Handlungen sich vor einem als Moral verkleideten Todeskult rechtfertigen – oder es wird versucht, ihnen die Berechtigung zur Teilnahme an der Gesellschaft zu entziehen, sprich: sie zu „canceln“.
Die Frage nach der Rechtfertigung ist oft nicht präzise zu beantworten. Manchmal wird Berechtigung implizit vorausgesetzt. Mancher erteilt sie sich selbst. Es ist zugleich wichtig und schmerzhaft, also wird es zum Gegenstand mancher Komödie.
In Ephraim Kishons Satire „Der Blaumilchkanal“ reißt ein entflohener Geisteskranker die Hauptstraße von Tel Aviv mit dem Presslufthammer auf, und man lässt ihn gewähren, denn die Behörden gehen davon aus, dass er doch gewiss eine Rechtfertigung dafür hat, dass es schon seine Berechtigung haben wird – sonst würde er es ja nicht tun, oder?
In der Comedy-Serie „Parks and Recreation” schreibt Ron sich selbst auf ein Stück Papier die Erlaubnis, zu tun, was auch immer er im Park machen will, denn er ist ja der Parkchef (siehe YouTube).
Ja, praktisch alle großen filmischen Satiren verhandeln im Kern auch die Rechtfertigung der Handlungen eines Menschen. Da wäre etwa „Naked Gun“ mit Leslie Nielsen, der trottelige Detective mit dem gesunden Selbstbewusstsein, was eben auch als Rechtfertigung durchgeht. Da wäre etwa „Dr. Strangelove“ von Stanley Kubrick über Männer, die sich gerechtfertigt sehen, den nächsten Weltkrieg zu verhandeln. Da wäre der Film „The Network“, der sich fragt (und daran verzweifelt), wie Akteure in Konzernmedien ihre Handlungen rechtfertigen.
Es ist ja auch lustig – solange es Fiktion ist.
Seitdem jeden Tag
Die Frage aber, über die ich heute täglich mehr rätsele: Wie rechtfertigen gewisse Mitmenschen ihre Handlungen?
Jene, die eben noch ihre ungeimpften Mitbürger aussperrten und als »Blinddarm« aus der Gesellschaft herausschneiden wollten, wie rechtfertigen die ihre Handlungen?
Menschen, die „Refugees welcome!“ rufen, aber privat an Orten wohnen, wo niemals „junge Männer“ angesiedelt werden (und wehe, es passiert doch), wie rechtfertigen die vor ihrem Gewissen, was sie ihren Mitbürgern damit antun?
Die deutschen Polizisten, die Bürger schlugen, als diese während der Coronapanik für Grundrechte demonstrierten, die hatten als Rechtfertigung, dass sie nur Befehle befolgten – doch genügt denen das wirklich, wenn sie abends in den Spiegel schauen?
Und Menschen, die ihr Gehirn herunterfahren, wenn ihnen jemand aufzeigt, dass sie vom TV angelogen wurden, und abwehrend „Schwurbler“ und „Rechter“ brüllen, haben die wirklich kein „logisches Gewissen“, vor dem sich doch jeder Mensch rechtfertigen muss?
Wie rechtfertigen die ihre freiwillige, potenziell tödliche Ignoranz? Wer gab ihnen die „Berechtigung“?
Ich verstehe es nicht, ich kann mich nicht einfühlen.
Hmm.
Wir sagen, es seien „die Kultur“, „soziale Normen“ oder „die Gesellschaft“, woraus Menschen ihre Rechtfertigung beziehen, doch was sind die inneren Mechanismen?
Findet da ein innerer Monolog statt? Etwa so: „Ja, eigentlich verstößt das gegen alles, was mir einst wichtig war, und es könnte mich töten, doch die Gesellschaft und die Leute im TV sagen das so, also tue ich es, denn dadurch ist es nur so gerechtfertigt.“
Hmm.
Vielleicht denken Menschen auch gar nicht. Vielleicht lenken sie sich unablässig ab, vielleicht haben sie auch kaum eine Wahl: Arbeit, Familie, Besorgungen, Rechnungen – und am Abend ist man dann viel zu erschöpft, um innere Verhandlungen über Rechtfertigung zu führen.
Vielleicht setzt bei traurig vielen Mitmenschen die Rechtfertigung erst ein, wenn sie gefragt werden, wenn die Tat getan und die Rechtfertigung keine ist, sondern nur der beste Versuch einer „Rationalisierung“.
Der Wunsch
Warum fragen wir uns und einander, ob eine Handlung „gerechtfertigt“ ist? Auf welche Art von Handlungen zielen wir denn?
Die Frage ist anscheinend einfach zu beantworten: Wir streben nach Handlungen, bei uns und natürlich auch bei anderen, die wir gut nennen können.
Damit wäre recht einfach zu beantworten, ob unsere Handlungen gerechtfertigt sind! „Gut“ bedeutet, dass die Handlung eine relevante Struktur stärkt, und „böse“ bedeutet, dass sie eine solche Struktur schwächt.
Deine Handlungen sind gerechtfertigt, wenn sie Strukturen stützen, die dir wirklich relevant sind – und keine für dich relevanten Strukturen schwächen.
Nein, ich verstehe die Menschen nicht, die gar nicht erst versuchen, sich zu rechtfertigen, oder wahlweise Rechtfertigungsversuche vorlegen, die sie selbst nicht glauben können, wie etwa Journalisten oder Politiker. Ich kann deren Scharade logisch nachvollziehen, aber auf einer empathischen, menschlichen Ebene sind sie mir vollständig fremd.
Man wünscht einander ja schon mal einen „schönen Tag“ oder „gute Gesundheit“, doch ich will heute einen weiteren Wunsch formulieren: Mögen deine Handlungen solche sein, die du vor dir selbst, im Privaten, stets rechtfertigen kannst.