Dushan-Wegner

27.09.2022

Sagen dürfen, sagen müssen

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Caleb Woods
Journalisten sagen nicht, was der Fall ist, sondern was du denken darfst (und was nicht). – Beispiele: Nicht-linke Politiker? Hast du »Faschisten« zu nennen, egal ob es Sinn ergibt. Sozialtourismus? Diese Fakten dürfen auf keinen Fall erwähnt werden!
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

Zwei Schlagworte prägen heute die Debatte: »Sozialtourismus« und »Faschismus«. Das eine darf auf keinen Fall gesagt werden. Das andere muss unbedingt gesagt werden – und es darf nicht gefragt werden, ob das Sinn ergibt oder nicht.

Ich gratuliere!

Am 25. September 2022 gewann Giorgia Meloni die Wahl in Italien, und sie wird wohl die nächste italienische Premierministerin werden (und die erste Frau in diesem Amt).

Ich schrieb darüber (»Stolze Italiener«). Und ich zitierte die Tagesschau. Wie viele andere sogenannten »Journalisten« schien auch die Tagesschau zu versuchen, so häufig wie möglich den Begriff »faschistisch« unterzubringen. Als Beleg dienten wohl angebliche Skandalzitate wie: »Ja zur Kultur des Lebens, nein zu Abtreibungen. Ja zu christlichen Prinzipien, nein zu islamistischer Gewalt.«

Auf eines ist aber auch in diesen bewegten Zeiten verlass: Die Schere zwischen Menschenverstand und Journalismus öffnet sich täglich weiter.

In der »Welt« schreibt Virginia Kirst:

Tatsächlich orientiert Meloni ihre Politik zwar bis heute am faschistischen Leitbild Familie, Gott, Nation, doch im Wahlprogramm finden sich keine antidemokratischen Tendenzen.  (welt.de, 26.9.2022 (€): »Eine Postfaschistin soll Italiens Erlöserin werden«).

Für Frau Kirst ist es offenbar bereits »faschistisch«, wenn sich einer an »Familie, Gott, Nation« ausrichtet – und potenziell antidemokratisch. Von wem hat Frau Krist ihr Demokratie-Verständnis? Hat sie Indoktrination irgendeiner durchgeknallten, von Open Society geförderten Polit-Sekte durchlaufen?

Artikel 6, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes sagt wörtlich: »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.« – Im (vorsichtshalber nicht einklagbaren) deutschen Amtseid schwören Politiker sogar aufs Volk, so wahr Gott diesen Figuren helfe. – Alles Faschisten?

Die echten Faschisten mit ihrer Ideologie machten einst ihre Länder und Europa kaputt, sie besetzten fremde Länder und hebelten die Demokratie aus, gingen brutal und undemokratisch gegen Gegner und Abweichler vor. Heute gilt als »Faschist«, wer sein Land davor bewahren möchte, von Ideologen zerstört zu werden. Als »Faschismus« gilt heute, eine Vielfalt der Meinungen zu fordern und die Rechte der Nachbarvölker auf Selbstbestimmung hochzuhalten.

Lassen Sie mich der erste Gratulant sein! Ich gratuliere hiermit vorab der Qualitätsjournalistin Virginia Kirst zu ihren gewiss bald eintreffenden Stipendien, Journalismuspreisen und Fördergeldern von millionen- und milliardenschweren Stiftungen im In- und Ausland.

»Entschuldigen Sie sich!«

Aber gut, »Faschist« ist ein Wort, das man heute für Abweichler und Andersdenkende verwenden muss, wenn man nicht selbst in den Verdacht geraten will, sich der großen Gleichschaltung zu widersetzen, sprich: selbst ein »Faschist« in diesem Sinne zu sein. (Ja, die Verwendung des Wortes »Faschist« für Andersdenkende ist eine Verharmlosung des Faschismus, doch Sie wissen ja: Verharmlosung ist keine, wenn »die Guten« es tun.)

»Faschist« muss man sagen, wenn es um Nicht-Linke geht – und dann gibt es andere Worte und Wahrheiten, die darf man auf keinen Fall aussprechen.

Herr Merz hat nun das Wort »Sozialtourismus« in die Debatte geworfen (tagesschau.de, 27.9.2022). Um zu verstehen, was mit diesem Begriff gemeint ist, könnte man schlicht fragen, warum die Flixbus-Fahrten nach Kiew, also ins Kriegsgebiet Ukraine, auf Monate ausgebucht sind. (Kai Rebmann hat das beim Kollegen Reitschuster unter Titel »Warum sind Flixbus-Fahrten nach Kiew auf Wochen ausgebucht?« am 18.9.2022 gründlich untersucht.)

Die öffentliche Debatte in Deutschland erinnert zunehmend an einen Stammtisch im Irrenhaus. Es klingt wie Realsatire, doch es ist wohl ernst gemeint, wenn Johannes Steiniger (MdB, CDU) verlautbart: »Im Übrigen gehe ich davon aus, dass besagte Flixbus-Nachricht, auf die auch immer wieder über #TikTok Bezug genommen wird, russischen Ursprungs ist.« (@JoSteiniger, 27.9.2022) – Natürlich könnte der gut bezahlte Abgeordnete ja selbst nachschauen. Aber nein – es ist einfacher, jede unangenehme Wahrheit als »russische Propaganda« abzutun. Man kann gar nicht anders, als an Cesare Cremonini zu denken, welcher es ablehnte, durch Galileo Galileis Fernglas zu schauen – und wahrscheinlich tut der Politiker es aus ähnlichem Grund, nämlich dass ihm davon schwindlig werden könnte (siehe Wikipedia).

Die BILD-Zeitung wird ihre Gründe haben, warum sie buchstäblich ihren eigenen Krieg gegen die Benennung dieses Phänomens erklärte. »Falsch und verantwortungslos!«, urteilte auf bild.de, 27.9.2022 der inoffizielle Zelenskij-Pressesprecher Paul Ronzheimer. Journalismus im Propagandastaat. Und bald konnte Ronzheimer auch einen Abschuss melden: »CDU-Chef bittet um Entschuldigung – Merz nimmt ›Sozialtourismus‹-Vorwurf zurück!« (bild.de, 27.9.2022)

Wenn ich mich richtig erinnere, war der Kommentar des Herrn Ronzheimer zunächst »Entschuldigen Sie sich, Herr Merz!« betitelt, wie die aktuelle URL bild.de/politik/kolumnen/politik-ausland/kommentar-zum-sozialtourismus-vorwurf-entschuldigen-sie-sich-herr-merz-81446490.bild.html und einige im Netz kursierende Screenshots nahelegen. Mein Verdacht ist, dass es sogar für das journalistische Niveau eines Propagandastaates zu offensichtlich wurde. Das sieht aus wie Aktivismus, der sich nicht einmal mehr als Journalismus zu verkleiden versucht. Also schwächte man den Imperativ ab, nachdem Merz ohnehin brav den Kotau vor der BILD-Meinungspolizei gemacht hatte.

Das Wort und der Begriff »Sozialtourismus« beziehen sich auf Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und die entsprechenden Sozialleistungen kassieren, dann aber regelmäßig in das Land zurückreisen, aus dem sie doch geflohen zu sein angeben.

Man hat dieses Phänomen bei Syrern beobachtet (tagesspiegel.de, 26.8.2019: »Anerkannte Flüchtlinge reisen ohne Absprache mit den zuständigen Behörden privat auf Heimaturlaub – das ist Behörden und zumindest in diversen Helferkreisen bekannt.«)

Und nun wird gemunkelt, dass ein ähnliches Phänomen auch bei Ukrainern beobachtet wird.

Schon mal hin und her

Als wir aus dem Sozialismus ausreisten, dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis wir unser Geburtsland Tschechien (damals: »ČSSR«) besuchten. »Flüchtlinge«, die innerhalb von Wochen und dann immer wieder pendelnd die Heimat besuchen, lassen mich doch rätseln, ob und worin genau ihr »Flüchtlingsstatus« besteht.

Apropos »Tschechien«: »Geflüchtete aus der Ukraine, die in Tschechien eine kostenlose Unterkunft und Verpflegung nutzen, sollen demnächst keinen Anspruch mehr haben auf die monatliche Unterstützung von 5000 Kronen«, so berichtet radio.cz, 2.6.2022. Ukrainer, die diese Unterstützung bereits erhalten, müssen ab der nächsten Beantragung belegen, »dass sie sich dauerhaft in Tschechien aufhalten – und dies bei Aufforderung auch durch persönliches Erscheinen auf dem Amt«.

Die Tschechen haben ein Problem benannt und korrigiert. Ich nehme an, das macht sie in den Augen des Herrn Ronzheimer oder Frau Kirst zu »Faschisten«, aber so muss man vermutlich denken, wenn man als Journalist im Propagandastaat erfolgreich sein will.

Menschen reisen schon mal hin und her, um kostenloses Geld abzugreifen, und dieses Phänomen nennt man »Sozialtourismus«. Und aus irgendwelchen Gründen will Herr Ronzheimer wirklich, wirklich nicht, dass es im Kontext der Ukraine benannt wird.

Warum nicht?

Klar, der Begriff »Tourismus« passt nicht, wie Twitter Jens Streubel uns erklärt:

Ich finde dieses Wort auch unmöglich! Es wird der Sache nicht gerecht! Ein Tourist verbringt eine schöne Zeit am Zielort und lässt dafür Geld da… (@jensstreubel, 27.9.2022)

Doch natürlich ist nicht mangelnde Präzision des Begriffs das Problem.

Das wahre Problem ist, dass aus irgendwelchen Gründen bestimmte Kreise partout nicht wollen, dass ein problematisches Phänomen benannt wird.

Man wird seine Gründe haben.

Nichtmal ein Wort

Die beiden parallelen Debatten um »Faschismus« und »Sozialtourismus« sind tatsächlich ein Wortkrieg um die Hoheit über die Bedeutung von Worten und die Sagbarkeit von Fakten.

Wer die Demokratie nicht für die EU-Bürokratie opfern will, wer sich eine freiheitlich demokratische Debatte mit Respekt für den Andersdenkenden wünscht, und wer darauf hinweist, dass es kein Sozialwesen ohne Grenzen geben kann, der hat heute ein »Faschist« genannt zu werden.

Dass ein vorgegebener Begriff wenig Sinn ergibt, stellt nicht unbedingt einen »Nachteil« dar – im Gegenteil: In totalitären Denksystemen ist es ein gängiger Machtbeweis, unsinnige Wahrheiten und Wortverwendungen erzwingen zu können.

Und dass das deutsche Sozialsystem nach allen Seiten hin ausgenutzt wird, dass der deutsche Steuerzahler zum Zahltrottel der Welt wird (samt zukünftiger Generationen, die via Schulden gleich mit belastet werden, so sie in Deutschland bleiben), das alles darf auf keinen Fall thematisiert werden. Ja, es darf nicht einmal ein Wort dafür existieren.

Wir könnten ja versuchen, ein anderes Wort für dieses Phänomen der »Sozialleistungs-Optimierung durch Orts-Mobilität« zu finden (etwa die Abkürzung »Sodom«), doch jedes Wort würde skandalisiert und verboten werden. Es geht in diesem Fall doch nicht wirklich ums Wort, geht ums Thema. Gewisse Kreise wollen wirklich, wirklich nicht, dass das Thema auch nur erwähnt wird, egal unter welchem Namen.

Wie es hervorsticht

Es wirkt heute wie selbstverständlich, doch mindestens die gereifteren Semester unter uns können im Geist einen Schritt zurücktreten und den geschichtlichen Kontext betrachten: Nein, es war nicht immer so, dass hauptberufliche Journalisten damit beschäftigt sind, schlimme Begriffe gegen den politischen Gegner zu etablieren (oder dass Journalisten überhaupt »politische Gegner« hatten) – während sie andere Begriffe verschwinden zu lassen bemüht sind (vermutlich weil die zugrundeliegenden Fakten nicht genannt werden sollen).

Ich präzisiere: Es war nicht immer so – aber es war schon mal so. Und es ist in anderen Teilen der Welt noch konsequenter so. Sollen wir uns jene Teile der Welt wirklich zum Vorbild nehmen?

Die Debatten um »Faschismus« oder »Sozialtourismus« sind tatsächlich ein Hoheitskampf darum, was gesagt werden muss – wie unsinnig es auch sein mag – und was nicht gesagt werden darf wie schmerzhaft es das Phänomen auch hervorsticht.

Die nächsten zehn Debatten

Ob leichte Kost wie »Röslein auf der Heiden« oder schwere Kost wie »schwarze Milch der Frühe«: Früher in der Schule fragten wir bei der Gedichtinterpretation, was »der Künstler uns damit sagen wollte«.

Wenn wir heute die Nachrichten lesen, können wir eine ähnliche Frage bezüglich der Journaille stellen – und das ist die eigentliche, vielleicht sogar einzig wertvolle Lehre aus diesen aktuellen Begriffskriegen.

Was passiert heute wirklich? Wir lesen es zwischen den Zeilen. Freie Denker sind hilfreich. Wir werden uns der Wahrheit nicht nähern, wenn wir nicht den Mut der Aufklärung aufbringen, uns unseres Verstandes zu bedienen.

Ob diese, jene oder die nächsten zehn Begriffsdebatten – die Lehre ist immer wieder diese: Der Journalist sagt dir, was du denken sollst – was aber wirklich passiert, das musst du selbst herausfinden.

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Arbeit (inzwischen 2,036 Essays) ist nur mit Ihrer Unterstützung möglich.

Wählen Sie bitte selbst:

Jahresbeitrag(entspr. 1€ pro Woche) 52€

Augen zu … und auf!

Auf /liste/ finden Sie alle Essays, oder lesen Sie einen zufälligen Essay:

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Wegner als Buch

alle Bücher /buecher/ →

Sagen dürfen, sagen müssen

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)