Dushan-Wegner

16.06.2022

Merkel, Thüringen und das Verfassungsgericht 2022

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Henrieke Fischer
Zweieinhalb Jahre später stellt das Verfassungsgericht fest, dass Thüringen 2020 eine demokratische Schweinerei war. Merkel ist nicht mehr Kanzlerin, doch die Politiker, die dabei mitmachten, sind weiter aktiv – und teils in hohen Ämtern.
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Reden wir nicht drumherum: Es gibt Gerichtsurteile, die sind auf jeden Fall richtig – doch ihre Umstände haben ein zynisches, unanständiges Geschmäckle. Das neueste Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist so eines.

Kurz zur Vorgeschichte

Am 5. Februar 2020 titelte ich noch:

FDP-Mann wird Ministerpräsident von Thüringen – endlich etwas Normalität (Essay vom 5.2.2020)

Die FDP hatte tatsächlich einen Ministerpräsidenten stellen können. Thomas Kemmerich hieß er. Allerdings, er wurde auch mit Stimmen der AfD gewählt.

Politiker wie Dorothee Bär von der CSU gratulierten – zunächst.

Herzlichen Glückwunsch, lieber Thomas Kemmerich! (@DoroBaer, 5.2.2020; via politwoops.de)

Die Angriffe folgten aber bald. In dieser besten deutschen Demokratie aller Zeiten gilt ein Wahlergebnis nur dann als wirklich »demokratisch«, wenn erstens »die Richtigen« gewinnen und zweitens das auch mit den »richtigen« Stimmen.

Zunächst verteidigte Frau Bär sich noch:

Ein FDPler wurde Ministerpräsident. Da gehört es sich zu gratulieren. (@DoroBaer, 5.2.2020; via politwoops.de)

Dann kam vermutlich eine Durchsage von oben. Frau Bär und andere löschten ihre Gratulation. Soviel zur Freiheit des Gewissens für gewählte Politiker.

Der heutige Wirtschaftsminister Habeck steigerte sich an dem Abend sogar in eine extra fragwürdige Wortwahl. Das sei eine »Situation«, die »sofort bereinigt werden« müsse. (@phoenix_de, 5.2.2020)

Rückgängig gemacht

Am nächsten Tag meldete sich Merkel zu Wort, und zwar von ihrer Dienstreise aus, also aus Afrika.

Die ehemalige DDR-Funktionärin erklärte, dass die Wahl des FDP-Mannes »unverzeihlich« sei und »dass dieser Vorgang wieder rückgängig gemacht werden muss« (siehe Essay vom 6.2.2020).

Also wurde die Wahl »rückgängig gemacht« – und wohl nach Merkels Wunsch wurde wieder ein Ministerpräsident aus der umbenannten SED eingesetzt. Ein Ministerpräsident aus der Partei der Mauermorde und Foltergefängnisse, das ist offenbar nicht »unverzeihlich«.

Ich fragte damals in einem Essay:

Kann Deutschland irgendwem auf der Welt noch etwas von Demokratie erzählen, ohne sich lächerlich zu machen? (Text vom 6.2.2020)

Thüringen 2020 steht für den größten Schaden an den Werten der Demokratie seit der Gründung der Bundesrepublik.

Demokratie bedeutet, dass wir Bürger in freier Wahl bestimmen, wer uns vertritt. Und dann, dass die Volksvertreter bestimmen, wer etwa Ministerpräsident wird, niemandem als ihrem Gewissen unterworfen.

Was ist eine Wahl wert, die bei Nichtgefallen von oben her rückgängig gemacht werden kann?

Wozu überhaupt wählen gehen?

Man hört schon mal den zynischen Spruch: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.«

Thüringen führt eine böse Variation vor: Wenn Wahlen etwa wider Erwarten doch etwas ändern, dann wird es eben für »unverzeihlich« erklärt und »rückgängig« gemacht.

Lieber leise auftreten

Die AfD brachte den Vorgang vors Bundesverfassungsgericht. 

Dem Verfassungsgericht steht bekanntlich ein wohlhabender Merkel-Parteifreund vor.

Und das Gericht ließ sich Zeit.

Viel Zeit,

Man hatte zu tun.

Man stellte sich derweil schützend vor den geldgierigen Staatsfunk. Wir erinnern uns an die geradezu dreiste Urteils-Begründung des Gerichts. Es waren lächerliche Formulierungen wie »authentische, sorgfältig recherchierte Informationen« (Essay vom 5.8.2021).

Oder man stellte sich schützend vor die Aufhebung von Grundrechten im Namen der Corona-Panik, indem man Eilanträge gegen Merkels Machtrausch ablehnte (Essay vom 6.5.2021).

Oder traf man sich mit der Kanzlerin zum Abendessen (rsw.beck.de, 13.10.2021) – während man intern über ihre Beschlüsse verhandelte.

Deutschland sollte wirklich etwas leiser auftreten, wenn es um die gefühlte Unabhängigkeit der Justiz in anderen Ländern geht.

Nicht eindeutig unschuldig

Nun, wir schreiben inzwischen das Jahr 2022. Den Kanzler gibt Olaf Scholz, der ganz bestimmt nichts mit irgendwelchen schmutzigen »Cum-Ex«-Geschichten zu tun hat.

Merkel ist nicht mehr Kanzlerin. Das Bundesverfassungsgericht bequemt sich also, über Merkels wenig demokratische Einlassungen festzustellen:

Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt. (bundesverfassungsgericht.de, 15.6.2022)

Im Nachhinein fühlt sich das Gericht frei genug, die Kanzlerin zu ermahnen:

Um die verfassungsrechtlich gebotene Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. (bundesverfassungsgericht.de, 15.6.2022)

Um das festzustellen, brauchten diese Leute zweieinhalb Jahre?

Es ist ein Hohn.

Nun, jetzt wurde immerhin quasi-amtlich festgestellt, dass Merkel der Demokratie geschadet hat.

Geht Merkel dafür ins Gefängnis?

Wird einer von Merkels Schemelhaltern und Kofferträgern bestraft werden?

Wird der Verfassungsschutz jetzt die politischen Netzwerke der Frau Merkel ins Visier nehmen?

Ich bitte Sie.

Der Verfassungsschutz wird weiter darauf achten, dass die Querdenker nicht allzu frech werden, wenn sie ihre Grundrechte einfordern.

Täglicher Beitrag

Das Urteil des Verfassungsgerichts ist vor allem in seiner Verzögerung ein Stinkefinger an die Bürger.

Quasi: Der Vorgang war wenig demokratisch – aber ihr Wähler könnt sowieso nix dran machen.

Und es stimmt. Wir können wenig daran machen.

Es ist blank unanständig, und unmoralisch und dazu wenig demokratisch, was da passiert.

Und wir können wenig machen.

Ich fühle Frust.

Ich will mir aber selbst Mut geben, ich will mich selbst motivieren: Was diese Leute tun, ja, es ist unanständig und zynisch. Soll ich deshalb selbst unanständig und zynisch werden? – Nein.

Ich versuche, so gut ich kann, anständig zu bleiben. Ich will meinen Zynismus im Zaum halten, und das ist nicht immer einfach.

Ich reiße mich zusammen, jeden Morgen neu. 

Anständig bleiben, nicht zynisch werden. Das soll mein täglicher Beitrag sein.

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