16.10.2023

Von der Unausweichlichkeit der Realität

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild: »Hübsch heute!«
Wir schreiben das Jahr 2023, und wir können einen bemerkenswerten Satz über Deutschland sagen: Die Realität kommt tröpfchenweise im Mainstream an. Wer früher vor dem Unausweichlichen warnte, stellt es heute nur noch trocken fest.
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Es war einige Jahre nach dem ersten Matrix-Film, und die Story hallte noch immer in der Geisteswissenschaft nach. Philosophen, die Interessantes dazu sagen konnten, wurden für Vorträge gebucht.

Einmal durfte ich bei einem solchen Vortrag dabei sein, mit einem der Größten der philosophischen Zunft. Im letzten Drittel durfte das Publikum seine Fragen stellen – sprich: man wollte vor den Kollegen zeigen, wie schlau man war. Aufregung!

Nach ein paar Standardfragen der Autoritäten, die etwa zu fragen quasi verpflichtet waren, grätschte ein Kommilitone frech rein: »Alles schön und gut, aber was ist sie, diese Realität?«

Der Großphilosoph wusste, dass die Anwesenden an dieser Stelle innerlich die bekannten Schulen listeten, inklusive der Gegenargumente sowie der Gegenargumente zu diesen. Realismus, Idealismus, Physikalismus, eliminativer Materialismus und so weiter, ad nauseam.

Der Großphilosoph legte eine Kunstpause ein.

Man versteht sich

Wenn man als Laie einem Schachspiel unter Großmeistern zuschaut, kann es passieren, dass ein Spieler dem anderen mitten im Spiel die Hand anbietet.

Damit zeigt er an, dass er aufgibt.

Der andere nimmt die Hand an. Er nickt. Man versteht sich. Noch während sie einander die Hand schütteln, stehen sie beide auf. Diese Partie ist für sie abgehakt.

Wir Ahnungslosen könnten rätseln, was da passierte. Wir sehen eine Reihe möglicher Züge. Sahen die Großmeister diese denn nicht?

Ach, die Unbedarftheit der Ahnungslosen!

Wir Amateurschachspieler sahen lediglich die nächsten zwei oder drei Züge. Die beiden Großmeister aber hatten in ihrem Geist ein Dutzend an Zügen im Voraus berechnet.

Sie beide erkannten, dass und wie der eine gewinnen und der andere verlieren musste. Jeder wusste ja, was er ziehen würde. Und er wusste, was der andere dann ziehen würde und so weiter, bis zum Unausweichlichen.

Am Ende gewinnt immer die Realität. Wer sich mit der Realität arrangiert, bevor sie eintritt, dessen Chancen steigen, zuletzt auf der Gewinnerseite zu stehen – oder zumindest nicht Zeit und Kraft in Schlachten zu verschwenden, die aller Erfahrung nach längst verloren sind.

Klar, je nach Charaktertyp kann es attraktiv sein, die Realität mitzugestalten, doch auch da gilt: Erfolgreiche Segler nutzen den Wind, den höhere Mächte ihnen bereitstellten. Relativ selten pusten sie auch noch in die eigenen Segel (selbst wenn sie dir oder sogar sich selbst genau das erzählen).

Betonung des Fallens

Der philosophische Großmeister gewährte dem philosophenschwangeren Raum einige stille Sekunden, dann antwortete er mit einer klugen Spiegelung der Fragen und Zusammenfassung des bekannten Debattenstandes, soweit ich mich erinnere. Er war ein Profi, ich war ein Anfänger. (Frei nach Mitch Hedberg: Ich bin immer noch ein Anfänger, aber damals war ich es auch.)

Im Schach geschieht es jedoch bisweilen, dass ein ahnungsloser Anfänger überraschend einen Meister besiegt oder zumindest ein Remis erzwingt, schlicht weil der Anfänger derart chaotisch spielt, dass der Meister eine perfide Taktik vermutet und nicht mit dem blanken Chaos rechnet. (Ab dem zweiten Spiel hat sich der Meister darauf eingestellt, klar, und der Anfänger wird nur noch sehr kurze Spiele spielen – aber dafür hoffentlich viel lernen!)

Nach ähnlichem Muster meldete ich mich dummdreist zu Wort und stellte die These in den Raum: »Realität ist, woraus du nicht herausfallen kannst.«

Meine Argumentation: Aus einem Traum kannst und wirst du früher oder später herausfallen. Bisweilen weißt du das sogar im Traum selbst! Wir wechseln zwischen verschiedenen Kontexten unserer Existenz. Den Kontext aber, aus welchem wir anscheinend nicht herausfallen können, in welchen wir immer wieder hineinfallen, den nennen wir »Realität«.

Die Realität ist der Default unseres Seins. Wenn wir aus dem Traum aufwachen oder von einem Drogentrip zurückkehren, fallen wir gewissermaßen in die Voreinstellung zurück. In den Default, ins Unausweichliche.

Die Realität ist das Gegenstück zur Ausnahme. Realität ist, über den Lauf der Zeit betrachtet, ein anderer Begriff für das Unausweichliche.

(Insofern ließe sich übrigens unserem Spruch »Am Ende gewinnt immer die Realität« eine gewisse Zirkularität bescheinigen, wenn man ihn liest als: »Das Unausweichliche ist unausweichlich.«)

Kneif mich!

Wir kennen den Ausruf: »Träume ich? Kneif mich!«

Er soll heißen: »Ich sollte besser prüfen, ob meine aktuelle Wahrnehmung tatsächlich die Realität abbildet. Zu diesem Zweck versuche ich testweise, ein ›Herausfallen‹ zu bewirken. Wenn ich durch schmerzhaftes Kneifen ausschließen kann, dass ein Herausfallen möglich ist, kann ich gerechtfertigt davon ausgehen, dass es kein Traum und keine Illusion ist, sondern die ›echte‹ Realität – also das, woraus man selbst mit Kneifen nicht herausfallen kann.«

(Ich scheine gern die Phänomene auf ihre Wahrnehmung zu reduzieren, ähnlich wie bei den Relevanten Strukturen. Wie bei jenen untersuche ich allerdings im zweiten Schritt die Bedingungen genau dieser Wahrnehmung. Die Untersuchung von »Liebe« oder der Farbe »Blau« funktioniert ja nicht anders!)

Der Großphilosoph stutzte bei meiner Antwort,  wie ein Großmeister des Schachspiels über das chaotische Spiel des ahnungslosen Kindes stutzen könnte. Der durchaus streitfreudige Philosoph erklärte, so meine ich mich zu erinnern, er sei sich nicht sicher, was die Literatur zu dieser Formulierung sage, und man müsse es prüfen. Anders als bei anderen Einwürfen zuvor sagte er jedoch nicht, dass und warum das Blödsinn sei, was ich vorgeschlagen hatte … man müsse es prüfen! Ich beschloss damals – und ich bleibe bis heute dabei – mir einzubilden, dass das eine veritable Leistung meinerseits darstellte.

Auf stolzer Brust

»Am Ende gewinnt immer die Realität«, so sagen wir hier, und einige von uns tragen diese simple Erkenntnis sogar auf stolzer Brust in großen, auffälligen Lettern!

Mit diesem Spruch warnten wir lange davor, dass manche linksgrüne Illusion nicht mit der Realität und ihren Regeln wie der simplen Kausalität zusammenzubringen ist.

Man hörte leider, leider nicht auf uns, und irgendwann bekamen das T-Shirt wie auch der Spruch ein Update. Wir ergänzten: »Willkommen in der Realität«, und zum Erscheinen des aktualisierten Designs schrieb ich 2021 auch den begleitenden Essay.

Inzwischen aber schreiben wir das Jahr 2023, und wir können über Deutschland einen fürwahr bemerkenswerten Satz sagen: Die Realität kommt tröpfchenweise im Mainstream an.

Nein, nicht wirklich bei ARD und ZDF – hahaha. Da moderiert Herr Restle fleißig Propagandafilmchen an, wie knorke das mit der Migration in Deutschland laufen kann (siehe Facebook) – während auf Deutschlands Straßen die »jungen Männer« aufmarschieren und »Tod den Juden« brüllen.

In den Kommentaren gibt der Staatsfunk de facto sogar unverblümt zu, Propaganda zu treiben: »Es ging in dem Film darum, einen glaubhaften Kontrapunkt zu der aufgeheizten Debatte um Migration in Deutschland zu setzen.« (ebenda)

Dem Staatsfunk gefällt nicht, wie sich die Debatte basierend auf der realen Realität heraus entwickelt, also setzt man einen Kontrapunkt. Ob der die (ganze) Realität abbildet? Egal, Hauptsache man ist »glaubhaft«.

»… weil die Realität ignoriert wurde«

Anderswo liest man durchaus von einer weniger geschickt ausgesuchten Realität. Und von dem Fehler, das Unausweichliche, aber logisch Erwartbare zu lange ignoriert zu haben. Bei nius.de, 16.10.2023 wird über einem Analyse-Text von Professor Patzelt getitelt: »Migration, Energie, Wirtschaft: Deutschland nimmt Schaden, weil die Realität ignoriert wurde«.

Professor Patzelt gehört tatsächlich zu den frühen Warnern, deren Widerklang man auch im Mainstream fand. Doch jetzt warnt er nicht mehr, beschreibt nicht mehr eine mögliche und zu vermeidende Zukunft. Der Professor beschreibt und begründet, wie es jetzt ist.

Er schließt seine Analyse allerdings mit einer bemerkenswerten Forderung, die ich eher in meinen philosophischen Schlenkern als auf einer knallharten News-Website erwartet hätte:

Der Bürger solle »die eigenen Fähigkeiten zur Politikanalyse« verbessern, so heißt es. So könne er dazu beitragen, »dass wenigstens in die politischen Urteile des eigenen Umfelds etwas mehr Vernunft gelangt«.

Damit impliziert er, dass die höheren politischen Kreise bezüglich Vernunft (oder Realität) ohnehin nicht ansprechbar sind.

Man wird nicht sofort widersprechen wollen.

Und nun?

Realität ist ein anderes Wort für das Unausweichliche. Das Land hat sie nun also erreicht, diese unausweichliche Realität, die späteren Glieder der Kausalitätskette. Und man wirkt reichlich hilflos.

Wir können uns nicht zurücklehnen, das wissen wir. Die Realität ist nicht gut genug, ein Zurücklehnen zu rechtfertigen.

Einige versuchen tapfer, politisch etwas herumzureißen. Ich bewundere und unterstütze diese Kämpfer. Wer Kämpfer ist, muss kämpfen, das ist seine Natur, und die Gesellschaft sollte den Kämpfern viel, viel dankbarer sein.

Weniger Hemmung, weniger Umschweife

Erst heute Morgen erfuhr ich von mehreren Lesern, wie sie in diesen Zeiten des Unausweichlichen etwas Schönheit, ja sogar etwas Sinn in ihrem Leben finden.

Einige Leser nehmen die aktuellen Krisenmeldungen zum Anlass, sich wieder einmal als Familie zu treffen. Und bei dieser Weltlage ergibt sich ganz natürlich, dass man auch sonst über die wirklich wichtigen Dinge redet, mit weit weniger Hemmung und Umschweife zum eigentlichen Kern der Beziehungen vordringt.

Erstaunlich oft höre ich von Lesern, dass sie ihre alte Kirche oder, ja, ihren Tempel wieder einmal besuchen. Man ahnt, dass hinter den alten Mythen und Ritualen eine tiefere, weitere Wahrheit wartet, die uns verloren ging und die wiederzufinden sich lohnt.

»Die Frage nach ›der‹ Aufgabe im Leben, nach ›dem‹ Sinn des Lebens«, so schrieb Viktor Frankl, ist »sinnlos. Sie müsste uns vorkommen wie etwa die Frage eines Reporters, der einen Schach-Weltmeister interviewt: ›Und nun sagen Sie, verehrter Meister: Welches ist der beste Schachzug?‹«

Es gibt keinen »besten« Schachzug, doch anhand der jeweils aktuellen Konstellation auf dem Spielbrett kann ein fähiger Schachspieler vorhersagen, wie das Spiel vermutlich ausgehen wird. Es gibt dann doch Erfahrungswerte, welche Art von Zügen zum Gewinn führt und welche nicht.

Ebenso ist es mit dem Leben selbst. Es gibt keine fixe Definition von Sinn, doch es gibt Erfahrungswerte dazu, was wahrscheinlich funktionieren wird – und was nicht.

Ad astra?

Was ist die Realität? Ein dummdreister zukünftiger Essayist formulierte einst: Realität ist, woraus du nicht herausfallen kannst.

Heute aber, wo wir kollektiv in der sogenannten Realität ankommen, lautet die neue Frage: Wie schaffen wir eine bessere Realität, in die wir dann hineinfallen wollen?

Ad astra, so sagen die einen, zu den Sternen! Oder zumindest zum Mars.

Ich sage: In die Tiefe!

Die Wolkenkuckucksheime sind voll, lasst uns in der Tiefe suchen.

Dies ist unsere neue Realität, und eine bessere Realität werden wir nur finden, wenn wir in die Tiefe gehen, zu unseren Wurzeln.

Zu unserer, ja, Identität.

Zu unserem Sinn.

Weiterschreiben, Dushan!

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