Eines der brutalsten Wörter der deutschen Sprache ist der flapsige Ausdruck »verheizen«. Wenn ich es höre, spüre ich ein Unwohlsein. Es ist ein Sprachbild, und als solches funktioniert es in mir sehr gut: Das Bild evoziert ein Gefühl, als wenn Menschen wie billige Kohle verbrannt würden, um einen Betrieb am Laufen zu halten.
Kohle, das ist Sedimentgestein, entstanden meist aus einst lebenden Pflanzen, oder wie die Fachleute sagen: aus »Biomasse«. Die Kohle zu »verheizen«, das bedeutet, ein letztes Mal die Energie aus der einstigen Biomasse zu holen. Einst war es Leben, dann ruhte es Dutzende Millionen oder sogar Hunderte Millionen Jahre in der Erde, dann gruben es hart arbeitende Männer aus der Erde aus. (Gibt es eigentlich schon Gesetze zur Frauenquote im Bergbau? Warum nur für Politik und Aufsichtsräte?)
Ist die Kohle aber erst einmal aus der Erde geholt, geht es schnell. Die Kohle wird verheizt, dann ist das letzte bisschen Leben aus der »Biomasse« geholt und die Restbestände, nachdem sie verheizt wurde, sie stören nur noch, und man will sie irgendwie loswerden.
Noch immer aktiv
Ein guter Teil meiner Familie und näheren Bekanntschaft hat einen Beruf im Gesundheitswesen erlernt – von diesen aber arbeitet nur noch ein Bruchteil tatsächlich in ihrem erlernten Beruf, und von diesem wiederum nur wenige in Deutschland. Manche sind in Rente gegangen, klar. Einige haben den Job aufgegeben. Einige sind ins Ausland gegangen.
Diejenigen unter meinen Bekannten, die eher in den »niederen« Ebenen arbeiteten – sprich Krankenschwestern/-pfleger oder Altenpfleger/-innen – sprechen seit Jahren ausnahmslos vom »Ausgebranntsein«, und das taten sie buchstäblich schon Jahrzehnte vor Covid-19.
Wir kennen es ja, wie Politiker in Sonntagsreden von »der Krankenschwester« salbadern, und wie wichtig sie ihnen sei, doch wir bedenken nicht, warum sie es tun. Ja, sie wollen dabei wie Jesus klingen, das ist wahr, doch Jesus sprach von Kindern und Bettlern, von Huren und Zöllnern, weil diese tatsächlich die Schwächsten und Geringsten in ihrer Gesellschaft waren. Wenn Politiker mit großem Pathos von Krankenschwestern reden, dann tun sie es, weil sie in ihnen die Geringsten in der Gesellschaft sehen – und es hat bislang gut für sie funktioniert, das nicht zu ändern. Ein Missstand, den man nicht verändert, lässt sich trefflich bejammern, und Wahlkampf für Wahlkampf kann man natürlich eine Verbesserung versprechen (dass es aber in der Vergangenheit nicht klappte, daran ist im Zweifelsfall die Opposition schuld, warum auch immer).
Sicher, niemand bezweifelt, dass erst die Krankenschwestern und Pfleger die menschliche Wärme in die Krankenhäuser bringen. Wie nennt man aber etwas, das für Wärme sorgt, solange es die Energie hat, und dann, wenn es keine Energie hat, »entsorgt« wird – richtig: Brennmaterial. Das Pflegepersonal wird verheizt.
Ich selbst bin so ungeschickt, dass wenn ich selbst Mediziner geworden wäre, die Todeszahlen heftiger nach oben schnellen würden als durch alle Covid-Varianten Alpha bis Omega zusammen. Seit ich aber Vollzeit-Schreiber bin, lese und höre ich nicht nur die entsprechenden Berichte aus meinem nächsten Familien- und Bekanntenkreis, sondern dazu auch die persönlichen Erfahrungen meiner Leser, von denen viele noch immer aktiv im Gesundheitswesen arbeiten, sei es als Ärzte, als Schwestern oder als Pfleger.
Dieser Tage habe ich aber mehrfach denselben glaubwürdigen Bericht gehört: Eine Zahl ungeimpfter »Pflegekräfte« schiebt derzeit heftige Überstunden – um geimpfte Kollegen zu vertreten. Dieselben ungeimpften Schwestern und Pfleger aber fürchten nun, wenn sie sich nicht dasselbe mRNA-Zeug injizieren lassen, nächsten Monat ohne Job dazustehen!
Es ist denkbar absurd, ja, doch die Geschichte lehrt uns, dass sich haarsträubende Absurdität und blanke Bosheit oft nicht unterscheiden lassen, und dass der Unterschied auch zu vernachlässigen ist, weil Absurdität und Bosheit sowohl dieselbe Ursache (Entkoppelung vom alltäglich Menschlichen) als auch dieselbe Auswirkung (menschliches Leid) haben können.
In einem Moment der kühlen Wut habe ich es jüngst auf Twitter so formuliert: »Deutschland ist, wenn du als ungeimpfte Krankenschwester brutale Überstunden leisten musst, weil deine geimpften Kollegen an Corona erkrankt sind – du aber nächsten Monat den Job verlierst, weil du nicht willst, dass es dir geht wie denen.« (@dushanwegner, 17.2.2022)
Aktuell (Stand 18.2.2022, Mittag) hat der Tweet über tausend Retweets, was man bei einem fröhlicheren Satz als einen guten Erfolg hätte werten wollen – dieser »Erfolg« ist mehr ein Schlag in die Magengegend. Betroffene schreiben mir über verschiedene Kanäle, dass sie es in ihrem Umfeld ähnlich erleben.
Um ein weiteres Mal meinen Job als Spracharbeiter zu tun, fasse ich die Zuschriften von Schwestern und Pflegern so zusammen: »Erst wurden wir verheizt, jetzt will man uns verarschen – und dann wird man uns entsorgen.«
Es passiert wirklich
Es gibt Begriffe, die verlieren über die Zeit ihren Schrecken und werden dann im Rahmen der »Dysphemismus-Mühle« durch immer schärfere Begriffe ersetzt (so wie einer, der die Verflechtung von Regierungen und Konzernen bzw. Investoren-Interessen kritisiert, von der »autoritären Linken« erst als »Rechter« bezeichnet wurde, dann als »Rechtsextremer« und aktuell als »Faschist« (man fragt sich, wie sie das wohl steigern werden…); siehe auch Essay vom 14.10.2018: »Wenn sie dich nicht ›rechts‹ nennen, was machst du falsch?«).
Das Verheizen aber verliert für mich nicht die schreckliche Kraft, wird dieses unerträgliche Gewicht nicht los. Der Unterschied zwischen heute zu rhetorischen Kampfworten verwässerten Vokabeln wie »Populist« und dem Wort »verheizen« ist, dass Verheizen sich auf sehr reale Tatsachen in der aktuellen Welt bezieht. Menschen werden verheizt, und es wird nicht weniger schmerzhaft, je länger es geschieht oder je öfter man es hört, denn es passiert wirklich.
»Die verheerendste Nebenwirkung von #Corona ist seine demaskierende Wirkung«, so schreibt eine Leserin (@annchris6, 18.2.2022), und sie schließt eine ernste Warnung an: »Ohnehin schon angeschlagenes Vertrauen und verloren gegangener Respekt weichen blanker Verachtung. Und diese Verachtung ist schlimmer als Wut. Wut kommuniziert noch, Verachtung nicht mehr.«
Selbst wenn ich niemanden aus der Branche kennen würde, so käme ich doch als Vater zweier Kinder oft genug mit dem Personal von Praxen und Krankenhäusern in Kontakt, sei es bei den typischen kleinen Verletzungen des Lebens oder bei treu eingehaltenen Vorsorgeterminen.
Jedes Mal denke ich mir: »Ich könnte deinen Job nie tun, und gerade deshalb bin ich extra dankbar, dass du dies tust!« (Einmal sagte ich es auch wirklich, und die einsetzende Irritation bewirkte, dass ich seitdem nur noch den Teil mit der Dankbarkeit laut ausspreche. So etwa vergangenen Sommer, als ich beim Joggen gestolpert war und mir die Hand aufriss. Ein Krankenpfleger musste die feinen Steinsplitter aus meiner Handfläche picken, Krümel für Krümel, zehn Minuten lang. Die Betäubung wirkte nur lokal, in der Tiefe der Hand aber »zog« es doch, und ich war durch alle Schmerzen hindurch sehr froh, dass er sich kümmerte.)
Ich habe allen Schwestern und Pflegern nur die Zusicherung anzubieten, dass ich Ihnen zugleich aufrichtig dankbar bin, gerade als Vater, und dass es mir umso mehr wehtut, wie der deutsche Staat und die eng mit der Politik befreundeten Krankenhauskonzerne Sie behandeln.
Ich weiß, dass Sie diesen Beruf auch deshalb wählten, weil Sie etwas Wärme in einen sonst viel zu kalten Betrieb bringen wollten.
Ich weiß, dass zu viele von Ihnen fürchten, bald ausgebrannt zu sein – wenn Sie nicht bereits Ihr erstes Ausgebranntsein erleben mussten.
Es ist ein emotionaler Kraftakt, jeden Morgen neu die eigene Seele auf die notwendige »Betriebstemperatur« zu bringen. Man will ja nicht wie ein kalter Eisklotz durch den Arbeitstag gleiten, das kann es doch auch nicht sein! Der Patient, der vor Ihnen liegt, er kann ja nichts für das alles! (Die Bonzen, die »dafür können«, die berührt das alles wenig, die haben Privatärzte und Privatkliniken mit Privatgaragen für ihre Dienstlimousinen.)
Geht weg von mir
Ja, wenn Politiker heute von Krankenschwestern sprechen, dann wollen sie gutmütig und gnädig klingen, weise und wohlwollend, vor allem aber volksnah (extra ironisch bei Leuten, für die »Volk« ein schmutziges Wort ist) – man könnte tatsächlich sagen: Die wollen klingen wie Jesus.
Lassen Sie uns also denen ein anderes, echtes Jesus-Wort zitieren, und zwar aus Matthäus 25:40b: »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.«
Wir dürfen gern für »Brüdern« auch »Schwestern« einsetzen, und dann dürfen wir uns vor Augen führen, was die Politik diesen Menschen antut.
Der Anthropologin Margaret Mead wird zugeschrieben (ich habe aber nur viele anekdotische Bezüge gefunden, etwa medicine.nus.edu.sg und viele andere), den Beginn menschlicher Zivilisation mit dem ersten uns bekannten geheilten Knochens zusammenzulegen. Ein Mensch, der sich damals den Oberschenkel brach, war praktisch »nutzlos«. Dass sein Knochen heilen konnte, brauchte die aufopfernde Pflege von Mitmenschen, mit nichts als Menschlichkeit zur Motivation. Den Kranken zu pflegen ist Teil dessen, was uns zu »zivilisierten Menschen« macht. Es ist ein unzweideutiger Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft, welche greifbare Wertschätzung sie jenen entgegen bringt, welche die praktische Seite der zivilisierten Menschlichkeit zu ihrem Beruf gemacht haben.
Könnte man die Situation des »Pflegepersonals« spürbar verbessern? In anderen Ländern geht es doch auch! Und wie soll das gehen?
Ich vermute, dass es mit einer Änderung des Bewusstseins beginnen müsste, mit einer neuen, echten Wertschätzung, und ich will gern meinen Teil dazu beitragen. – Für den Moment aber will ich nochmal Jesus zitieren, und zwar aus Matthäus 25:41b, also dem Vers, der auf den obigen folgt.
Jesus ruft all denen zu, welche die »Geringsten« schlecht behandelt oder schlicht ignoriert haben: »Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!«