18.02.2020

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von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von fred A
Polizei fragt Asylbewerber, ob er abgeschoben werden mag. Er verneint. Polizei geht wieder. – Frage an Finanzminister (wenn Sie zwischen Cum-Ex-Fragen etwas Zeit haben): Können Steuerzahler das auch so tun – oder gilt etwa nicht gleiches Recht für alle?!
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Als ich zum ersten Mal jenes Gedicht las, erschrak ich, und dachte: »Was für ein Menschenbild! Jedoch, dann: »´s ist von Herrn von Goethe, also wird es seine Wahrheit in sich bergen.«

Erst später wurde mir bewusst, dass er das, was ich erschreckend fand, durchaus positiv meinte! (Also etwa wie die Katze, die ihrem Besitzer eine tote, beinahe vollständige Maus bringt.)

Das Gedicht hat Herr Goethe etwa 1775 oder 1776 geschrieben, und es trägt den Titel: »An ein goldnes Herz, das er am Halse trug«, und abgedruckt wurde das Gedicht des Herrn von Goethe im Jahre 1789. (Wer merkt und weiß, der versteht auch.)

Die letzte Strophe des Gedichtes klingt so:

Wie ein Vogel, der den Faden bricht
Und zum Walde kehrt,
Er schleppt des Gefängnisses Schmach
Noch ein Stückchen des Fadens nach;
Er ist der alte freigeborne Vogel nicht,
Er hat schon jemand angehört.

Meine erste Reaktion, in Worten: Was für ein grausames Menschenbild! Die Gefangenschaft als Stigma, das sich nie wieder abwaschen lässt!

Der zweite Gedanke dann war: Moment, seien wir ehrlich, es ist ja durchaus möglich, dass ein Mensch von einer Gefangenschaft sein Leben lang geprägt ist. Es ist realistisch, kein Zweifel.

Erst im dritten Gedanken dann ahnte ich, dass der Dichter diesen Faden als etwas Positives sieht, eine Liebe, eine Verbundenheit der Herzen, die er gar nicht vollständig lösen wollte, selbst wenn er könnte!

Und nun bin ich verunsichert – schönen, sarkastischen Dank, die Herren Goethe (1749 – 1782) und von Goethe (1782 – 1832)! Wer entscheidet denn, ob eine Kette zu feiern und polieren oder zu verfluchen und zu brechen ist?

Warum Clickbait weniger wird

Als »Clickbait« (ausgesprochen etwa: »Klickbejt«, wörtlich: Klick-Köder) bezeichnete man einst Schlagzeilen, welche mit »Curiosity Gap« und sensationeller Sprache die Neugier weckten (Beispiel: »Die 10 schlimmsten Verbrechen der Geschichte, Nummer 5 wird dich zum Weinen bringen«). Wenn man dann tatsächlich so eine Schlagzeile anklickte, wurde man oft vom Text selbst enttäuscht.

Der plumpe Clickbait früher Social-Media-Tage ist heute (gefühlt) seltener geworden (und die Klickdreck-Medien, die darauf ein Geschäftskonzept aufbauten, entlassen ihre Millennials wieder). Ich vermute zwei Ursachen für diese Entwicklung, eine frohe und eine weniger frohe: Ich vermute, dass wir Internet-Besucher kompetenter darin geworden sind, substanzlosen Clickbait schon am Titel zu erkennen, und das ist erst einmal gut. Doch ich sehe noch eine weitere Ursache, warum der Clickbait weniger wird, und die bietet weniger Grund zum spontanen Jubel ob der klüger werdenden Kultur: Die tatsächlichen Nachrichten sind so absurd und immer wieder heute krasser als gestern, dass Clickbait schlicht nicht mithalten kann.

Eine der heute häufigeren Schlagzeilen, wo einfach nur wie in den »guten alten Zeiten des Journalismus« (die es nie gab, seien wir ehrlich!) in der Überschrift zusammengefasst werden muss, was im Artikel beschrieben wird, und die dennoch wie Clickbait klingen, ließ uns diese Woche wissen: »Polizei fragt abgelehnten Asylbewerber, ob er abgeschoben werden möchte« (welt.de, 16.2.2020)

Wenn man dem Antrag des Anwalts des Asylbewerbers glauben darf (und, da es nicht der einzige derart kuriose Fall ist, tun wir das hier), aus welchem der WELT-Politikredakteur im zitierten Artikel (welt.de, 16.2.2020) selbst zitiert, dann sind die Polizisten beim Herrn aus dem Irak vorbeigekommen, fragten ihn, ob er abgeschoben werden möchte, er sagte »wahrheitsgemäß«, dass er nicht möchte, und dann gingen die Herren Polizisten wieder.

Welcher Wille zu welcher Zeit?

Was ist Gefangenschaft? Spontan und aus dem Kopf könnten wir vielleicht die »Gefangenschaft« einen Zustand nennen, in dem ein Mensch gegen seinen Willen festgehalten wird. Das Problem einer solchen Ad-Hoc-Definition wird durch mögliche Rückfragen deutlich: Welcher Wille zu welcher Zeit? – Beispiel: Das Mitglied einer Sekte kann psychologisch manipuliert werden, in den Katakomben einer Sekte verweilen zu »wollen«. Erst Jahre später wird ihm bewusst, wie viel reiche Schönheit es dadurch verpasst hat und trauert der verlorenen Lebenszeit nach – war der Mensch ein Gefangener, als er in der Sekte lebte?

Das Kratzen der Ketten

Deutschland entwickelt in diesen Jahren gewisse Eigenschaften, die mit einer Art »Psycho-Gefängnis« umschrieben werden könnten. Ein guter Teil der Bevölkerung spielt Aufseher, abendlich vom Staatsfunk auf- und eingepeitscht. Ein Teil der Gefangenen hat sich abgefunden. Ein kleiner, aber steter Strom beschließt zu fliehen. Und einige Gefangene wagen es, zu protestieren, und doch nicht zu fliehen, denn da, wo dubiose Kreise das Psycho-Gefängnis bauen, ist ihre Heimat. Wer die Menschen an der Psycho-Kette hält, der baut die Mauern aus Angst vor der Wahrheit, der schmiedet den Stacheldrahtzaun aus Politischer Korrektheit und die Selbstschussanlagen aus panischer Moral.

Wer die Menschen im Gefängnis ihrer Angst vor politischer Unkorrektheit gefangen hält, der muss keine Abwahl fürchten, wenn Bürger arbeiten und Steuern zahlen gehen, damit ein Clan-Mitglied aus Montenegro behandelt und beschützt wird – für 100.000 Euro pro Tag (bild.de, 17.2.2020). – Wer die Menschen im Gefängnis ihrer Angst vorm Ausgestoßensein gefangen hält, der muss nur wenig beschwerden fürchten, wenn das Land zum Zahltrottel Europas wird: Aktuell stehen zusätzliche 84 Milliarden EU-Kosten im Raum, also rechnerisch mehr als 1.000 Euro pro Bürger (focus.de, 18.2.2020). Wenn eine Kanzlerin, die an der Macht weit geschickter klebt als an der Realität, mal eben eine ihr nicht genehme Wahl »rückgängig« machen lässt (siehe »Kann Merkel-Deutschland sich ›Demokratie‹ nennen?«), dann muss man die Menschen schon an der sehr kurzen geistigen Leine halten, damit sie einen nicht a) auslachen und b) stante pede abwählen.

Das Kratzen der Ketten über den bröckelnden Asphalt, wenn der Steuerknecht sich im Morgengrauen zur Arbeit schleppt, das ist die neue deutsche Volksmusik.

Die Metapher von Deutschland als Psycho-Gefängnis erklärt ein weiteres Phänomen: Die Wut, die alle Seiten spüren, aber jede auf ihre eigene Weise.

Um Kurt Tucholsky zu zitieren: »Wem die Hände gefesselt sind, dem schlägt sich die Wut ins Gehirn.« (In: »Dürfen darf man alles: Lebensweisheiten«)

Es war zu allen Zeiten üblich, »geeignete« Gefangene als Hilfs-Gefängniswärtern zu nutzen, und bei Gelegenheit waren diese die wütendsten, grausamsten unter den Aufsehern. Linke von Antifa über Grüne und Ex-SED bis zu den linken Flügeln von CDU und FDP fallen vor allem durch ihre Wut auf Abweichler und Andersdenkende auf, doch offensichtlich ist diese Wut ein nur dünn kaschierter Selbsthass. Linke hassen alle Nicht-Linke, doch es ist nur eine umgelenkte Wut, nämlich der Schmerz von den Fesseln, welche die Propaganda und ihre eigene Psychen ihnen aufgelegt haben.

Islamistische Terroristen hassen den Westen, doch ihr Hass ist der nach außen gekehrte Schmerz über die eigene innere Unfreiheit (und die daraus folgende Zerrissenheit). Haltungs-Aufpasser wüten gegen Abweichler und Andersdenkende, doch es ist der nach außen gekehrte Schmerz über die Lügen und Inkongruenzen, auf denen sie ihr Weltbild aufbauen.

Die Staatsfunk-Republik mit der immer honeckerigen, pardon: ich meinte, mit der honorigen FDJ-Angela als Herrscherin auf viele Jahrzehnte, sie ist auf gewisse Weise perfider als die Regimes des Ostblocks. Damals baute man die Mauer um den Staat, heute baut der Staatsfunk hohe Mauern in Köpfen und Herzen, und er trennt Familien und Freundeskreise, und auf gewisse Weise ist die neue Mauer brutaler als die Berliner Mauer zuvor.

Du bist kein Vogel

Für Goethe war es eine im Rückblick sentimental schöne Vorstellung, von Reiz und Lieblichkeit einer Dame am Faden gefangen zu sein wie ein Vögelchen (zur Illustration von Vögeln als »Kinderspielzeug« am Faden siehe museenkoeln.de: »Der Vogel am Faden«) – doch die »Gefangenschaft« des Liebhabers ist eben eine freiwillige!

Nein, die Gefangenschaft der Gedanken, wie sehr sich Linke und andere Ideologen nach ihr sehnen, ist weder schön noch erstrebenswert. In der Liebe zum Menschen erfahren wir das »Höchste der Gefühle«, eine der feinsten Angelegenheiten, die das Menschsein zu bieten hat – die Gefangenschaft einer Ideologie ist einer der elendsten Zustände, denen man als Mensch zum Opfer fallen kann.

Einige Linke schwanken, in ihnen ringt der Wunsch nach Wahrhaftigkeit mit der Angst, ausgestoßen zu werden. Und selbst wenn ein Mensch sich aus den inneren Fäden und Fesseln befreien kann, trägt er doch immer mit sich das Bewusstsein, wie einfach es ist, einer Ideologie zu verfallen. Ein Gutes hat es aber: Wer selbst den Fesseln entkam, wer selbst in ihnen lebte, wer sie gar für Freiheit hielt, der sollte ein Mitgefühl entwickelt haben für die, welche sich ihre Hände freiwillig auf den Rücken halten und stumm bleiben, wenn ihnen in Wahrheit weder Fessel noch Knebel angelegt sind.

Zieht und zerrt

Wenn die Polizei höflich nachfragt, ob man es okay findet, wenn sie ihren Job tut, dann sind wir in irren Zuständen. Eine Gesellschaft, die so etwas akzeptiert – ja sogar feiert – fühlt sich an, als wäre der Verstand in Ketten gelegt und ins dunkle Verlies geworfen worden.

Der Gefangene im Gefängnis aus Stahl und Mauern kann ausbrechen, doch wie bricht der aus, dessen Ketten seine eigenen Gedanken sind?

Soll man, wenn man selbst die eine oder andere Kette abschüttelte, seinem Mitmenschen helfen, es ebenso zu tun? Es ist gefährlich und wird als Gewalt empfunden werden (schon Platons Höhlengleichnis warnt davor).

»Wer sich nicht bewegt, der spürt seine Fesseln nicht«, so sagt ein alter und wahrer Sponti-Spruch. Dass wir heute Fesseln im Denken spüren, dass wir uns auf die Zunge beißen und – klugerweise oft nur heimlich – an die Stirn tippen, ist der Beweis, dass wir noch auch innen am Leben sind, dass wir noch in uns die Sehnsucht nach Freiheit spüren.

Zieht und zerrt an euren Fesseln! Rüttelt täglich an euren Ketten, denn solange es weh tut, solange seid ihr am Leben, solange glimmt in euch die Freiheit.

Weiterschreiben, Dushan!

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