Dushan-Wegner

04.03.2022

Elefanten und Feldmäuse

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten, Foto von Nick Fewings
Wenn Elefanten kämpfen, dann leidet das Gras, so sagt eine Redensart. Wir ergänzen: Und die Feldmäuse leben in Gefahr! Extra gefährlich wird es aber, wenn ein Elefant sich verkalkuliert hat.
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Die russische Armee ist auf Anordnung des mutmaßlichen Milliardärs Vladimir Putin in die Ukraine einmarschiert, die vom weniger ultrareichen, aber gewiss nicht armen Volodymyr Zelensky regiert wird.

Wenn man die internationalen Meinungen zu Putins Kriegsgrund aufsummiert, ergeben sich zwei grundsätzliche Positionen, die sich nicht widersprechen.

Erstens sieht Putin, so eine kursierende Deutung, seit jeher den Zerfall der Sowjetunion als »Katastrophe des Jahrhunderts« (vergleiche etwa independent.co.uk, 26.4.2005), und das politische Vermächtnis des heute 69-Jährigen soll es sein, möglichst viel des einstigen russischen Imperiums wieder unter der Macht des Kreml zu vereinen.

Zweitens, so eine weitere Deutung, sieht Russland sich durch die Expansion der Nato bis an die Grenzen Russlands gefährdet. Nicht nur »Russland-Versteher« warnten, dass die Erweiterung der Nato bis vor Russlands Grenzen zu Krieg führen könnte, doch es galt als verbotene Wahrheit in westlichen Propaganda-Staaten, also wurde es ignoriert (vergleiche Ted G. Carpenter in theguardian.com, 28.2.2022).

Die Zahl der Toten ist in einem aktiven Krieg besonders schwer zu schätzen (siehe auch nytimes.com, 2.3.2022), besonders in einem Krieg wie diesem, der vom ersten Moment an von beidseitiger Propaganda und sogar Versuchen kontinentweiter Zensur geprägt ist (siehe auch Essay vom 2.3.2022).

Laut usatoday.com, 3.3.2022 hat Russland bestätigt, dass etwa 500 ihrer Soldaten starben, die Ukraine hat keine Zahl zu ihren toten Soldaten veröffentlicht, spricht aber von bis zu 9.000 toten Russen. Die Ukraine spricht bislang von etwa 2.000 toten Zivilisten, die U.N. verzeichnete 227 Tote bis zum 3. März, darunter 15 Opfer unter 18 Jahren.

In der Ukraine wurde das Kriegsrecht erklärt. Männliche Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen (siehe usatoday.com, 25.2.2022), außer in Ausnahmefällen, etwa wenn sie drei oder mehr Kinder haben (so visitukraine.today).

Nachrichten-Agenturen wie apnews.com, 3.3.2022 liefern bewegende, aber noch erträgliche Bilder vom Krieg – in den sozialen Medien finden sich weitere Aufnahmen, die ich nicht verlinken möchte, denn da sind die Leichen nicht mit einem Tuch zugedeckt.

In sozialen Medien kursieren Bilder etwa von liegengebliebenen russischen Panzern, die mit Traktoren »geklaut« und abgeschleppt werden, siehe etwa @OSICnick, 27.2.2022, und bei aller Grausamkeit des Geschehens schlägt Putins Armee also auch Häme entgegen, weil die Invasion nicht ganz so glatt lief, wie er sich das vermutlich gewünscht hätte.

Zwei Gründe könnten es ratsam erscheinen lassen, mit Häme und anderen voreiligen Äußerungen westlicher Überlegenheit erstmal zurückhaltend zu sein. Zum einen gibt es auch Peinlichkeiten auf westlicher Seite, wie etwa die verschimmelten deutschen Raketen aus DDR-NVA-Beständen (bild.de, 4.3.2022). Zum anderen aber: Journalisten mögen innerhalb einer Woche von Viren-Experten zu Militär-Strategen umgeschult haben, echte Militär-Experten aber weisen darauf hin, dass Putin noch eine gute Zeit lang eine brutale Materialschlacht fahren kann (siehe etwa apnews.com, 4.3.2022).

Selbst wenn auf einen russischen Zwischensieg immer drei ukrainische kämen, könnte Putin so lange »Material« nachschicken, bis die Ukraine auch für diesen einen Sieg die Kraft fehlt. Mein Atem stockt und mein Magen krampft sich zusammen, wenn ich an all die Söhne russischer und auch ukrainischer Mütter denke, die für die Strategien irgendwelcher alten Herren in Bunkern ihr Leben lassen.

Ich schreibe diesen Text am Morgen des 4.3.2022. Die ersten Nachrichten, die ich heute las, handelten von einem Beschuss des größten Kernkraftwerks Europas, nahe der südukrainischen Stadt Saporischschja. Ich las vom Feuer auf dessen Gelände. Es wurde keine erhöhte Strahlung gemessen. Inzwischen wurde das Feuer gelöscht und die russische Armee hat das Kernkraftwerk besetzt (reuters.com, 4.3.2022), es wird aber weiter von ukrainischem Personal betrieben (bild.de, 4.3.2022). Ein Zyniker würde sagen: Damit könnte den Russen gelingen, was ihnen dank Merkel und Grünen zuvor in Deutschland fast hätte gelingen können, nämlich sich ein Land gefügig zu machen, indem man dessen Energieversorgung im Griff hat. Wie lange kann ein Land noch Gegenwehr leisten, wenn du ihm buchstäblich den Strom abdrehen kannst?

Dies ist ein kurzer Aufriss der Nachrichten, wie sie sich mir heute darstellen. Was wirklich passiert, weiß ich nicht endgültig, und niemand in unserer Gehaltsklasse kann es wissen, denn die EU hat eine Informations-Glasglocke verhängt und zensiert quasi-offizielle russische Inhalte.

Wir wissen, was die Ukraine und unsere Medienkonzerne uns wissen lassen wollen – die Gegendarstellung von Putins Propaganda-Apparat kennen wir nicht – und selbst wenn wir sie kennen sollten, stünde eben »Propaganda gegen Propaganda« (und nein, wenn ich feststelle, dass es wie jeder Krieg auch ein Propaganda-Krieg ist, habe ich dadurch keine einzige Gewehrkugel gerechtfertigt).

Ich fühle mich heute beinahe wie ein griechischer Philosoph, wenn auch trauriger, wenn ich feststelle: »Ich weiß, dass ich nichts weiß…«

Und dann ergänze ich: »…, aber ich habe da ein paar Fragen!«


Laut fortune.com, 2.3.2022 behauptet Putin so eisern wie wohl auch sarkastisch, er würde weniger als 130.000 Euro im Jahr verdienen und in einer 74-Quadratmeter-Wohnung leben. Tatsächlich zählt er nach mancher Vermutung zu den reichsten Männern der Welt, wenn er auch anders als Bezos oder Musk versucht, nicht in den entsprechenden Listen vorzukommen. Alexei Navalny hat auch deshalb Ärger (und »Ärger« ist ein krasser Euphemismus), weil seine Stiftung etwa Fotos und Informationen zu einem Ultra-Luxus-Anwesen veröffentlichte, dass angeblich Putin gehören soll (businessinsider.com, 21.1.2022).

Volodymyr Zelensky, aktueller Präsident der Ukraine, wurde für seine Wahl vom Milliardär Ihor Kolomojskyj gefördert – 2021 wurde gegen diesen von den USA eine Einreisesperre verhängt, es wird ihm Korruption vorgeworfen – er ist es übrigens, mit dessen Vertrauten sich wiederum Trumps Leute getroffen haben sollen – es ist kompliziert (so spiegel.de, 6.3.2021, vergleiche auch buzzfeednews.com, 19.5.2020)

Zelensky und seine Partner selbst tauchen mit mehreren Firmen in den sogenannten »Pandora Papers« auf (so occrp.org, 3.10.2021), was nahelegt, dass sein persönliches Vermögen nicht unerheblich sein wird.

In seinem Wahlkampf wütete Zelensky noch gegen Korruption und Politiker, die ihr Geld im Ausland versteckten – nur um später leider, leider zu vergessen, es öffentlich zu machen, dass er selbst mal Anteile an Auslandsfirmen hielt (theguardian.com, 3.10.2021).

Die kursierenden Angaben zu Zelenskys tatsächlichem Vermögen reichen von »bescheidenen« 1,5 Millionen US-Dollar bis zu dreistelligen Millionen-Beträgen und mehr, wobei die extra hohen Beträge mir eher wie »Schätzungen« russischer Propaganda erscheinen.

Nein, wir wissen nicht genau, wieviel Vermögen die einzelnen Herren angehäuft haben. Wir wissen nur, dass die einfachen Menschen in den Straßen und Häusern der Ukraine leiden und Angst haben, darin sind sich unsere Propaganda und die Vor-Ort-Berichte der Menschen einig.

Und wir wissen noch etwas: Putins Angriff hat nicht nur die übrigen Staaten der Welt näher zusammenrücken lassen. Auch ukrainische Oligarchen legen aktuell manche Streitigkeiten auf Eis und unterstützen ihre Regierung, gegen Putin und Moskau (forbes.com, 24.2.2022).


Jener berühmte Ausruf, »ich weiß, dass ich nichts weiß«, lautet genau(er) übersetzt eigentlich: »Ich weiß als Nicht-Wissender.«

Ich finde, diese nähere Übersetzung ist uns heute ein durchaus nützliches Werkzeug – und ich will eine extra-mutige Anwendung wagen!

Ich weiß nicht genau, was heute passiert, denn ich weiß, dass ganz selbstverständlich und nebenbei Informationen zensiert werden. Nachrichtensender und Twitter-Accounts verschwinden über Nacht, fast so spurlos wie die Nachrichten auf Ursula von der Leyens Smartphones, und es ist nicht ratsam, auch nur zu wiederholen, was die Verbotenen sagten, wenn man nicht selbst verboten werden will.

Bei mir zumindest erreicht Zensur abweichender Meinung zuerst: Ich misstraue heute auch solchen Nachrichten, denen ich sonst geglaubt hätte.

Gehen wir aber davon aus, dass westliche Propaganda und Realität sich derzeit weithin überschneiden (und dass eventuelle »Wiederverwendung« von Bildern dem Eifer des buchstäblichen Gefechts geschuldet ist).

Als Nicht-Wissender meine ich eine Sache eben doch wissen zu können, und die ist von der Kategorie, die einen früher als »Linken« qualifizierte und heute, dank Propaganda von Konzernen und Milliardären, mit dem Etikett »rechte Verschwörungstheorie« belegt ist.

Ich will es als Frage im Geist der Wissenschaft formulieren: Würde es die Welt schlechter oder besser erklären, wenn wir Kriege wie den aktuellen Einmarsch der Putin-Truppen in die Ukraine versuchsweise als den privaten Krieg ultrareicher Männer deuten, von denen natürlich einer klar angriff?


Dass in der Ukraine heute Männer aus tiefster Überzeugung für ihr Land kämpfen und zu oft auch sterben, das steht außer Zweifel.

Der Ruf »Slawa Ukrajini«, zu Deutsch etwa: »Ruhm der Ukraine« wird heute von braven Linken und Journalisten proklamiert, für die sonst allein der Gedanke an die Nation schon »rechts« und »nazi« und quasi-faschistisch erscheint. Man stelle sich vor, in Deutschland würde bei Demonstrationen etwas Ähnliches gerufen werden, etwa indem man das bekannte Kriegerdenkmal für die Eisenbahntruppe des ersten Weltkriegs, siehe Wikipedia, neu aufgreift: »Für Deutschlands Ruhm und Ehre«.

Putin erzählte seinen Soldaten, sie würden in der Ukraine als Befreier empfangen werden. (Man könnte feststellen, dass das so mancher Kriegsherr erzählt, der in ein Land einmarschiert. Dick Cheney etwa erzählte auch, die US-GIs würden im Irak als Befreier begrüßt werden; siehe reuters.com, 11.3.2008, Zitat von 2003: »my belief is we will, in fact, be greeted as liberators«,)

Ein Zyniker könnte sarkastisch formulieren: Womöglich hat Putin die Ukraine in Russland mit Deutschland verwechselt, wo ihn tatsächlich einige Fehlgeleitete freudig begrüßen könnten, nicht mit »Deutschlands Ruhm« sondern mit: »Nie wieder Deutschland!« – einige davon vielleicht sogar als Mitglieder oder zumindest Sympathisanten einer deutschen Regierungspartei.


Wenn ich davon ausgehen würde, dass der Krieg in der Ukraine der Überfall eines Ultrareichen auf ein Land mit einigen Superreichen ist, dass arme Jungs für reiche Männer sterben, wie würde es mein Denken und eventuell auch mein Handeln beeinflussen?

In der EU erleben wir hinsichtlich der Nachrichtenlage eine »softe Käseglocke«, welche es dem Kreml unmöglich machen soll, zu EU-Bürgern zu reden – und in Russland soll eine »harte Käseglocke« über das eigene Volk gestülpt werden, die andere Medien als russische Staatsmedien zum Verstummen bringen soll (foxnews.com, 4.3.2022).

Westliche Journalisten preisen die angegriffene Partei und schütteln dem »Ukraine-Helden« die Hand (bild.de, 4.3.2022), was natürlich menschlich, sympathisch und verständlich ist, aber eben nicht journalistisch, sondern eher propagandistisch (ja, auch Propaganda für die gute Seite bleibt Propaganda).

Was kann man in dieser Ära des Nicht-Wissens also wissen?

Ich halte für mich einige Stichpunkte und Denkansätze fest, so simpel sie auch sein mögen:

  • Das Geschäft der Politik ist der Deal »persönliche Bereicherung der Gewieften gegen Wohlstand und Sicherheit für die Masse«.
  • Der Unterschied zwischen Politikern ist oft nicht, ob sie an ihrem Job reich werden, sondern wie es die Bevölkerung betrifft – und wieviel sie für sich abzweigen (ein paar Maskendeals sind etwas anderes als beiseite geschaffte Milliarden, während das Volk hungert).
  • Krieg ist bekanntlich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, die Politik aber ist eine Fortsetzung des Business, ausgeführt durch jene, denen es gelingt, Nationen und ihre Völker zu ihrem Kapital und Spieleinsatz zu machen.
  • Putin wirkt nicht nur grausam und gewissenlos, indem er Menschen sterben und leiden lässt, er hat sich womöglich auch noch verkalkuliert – die russische Wirtschaft bewegt sich auf den totalen Kollaps zu.
  • Teile des Vermögens der Oligarchen sind längst ins Ausland geschafft, siehe Pandora- und Panama-Papers, aber eben nicht alles.
  • Europäische Mächte handeln augenscheinlich folgerichtig, wenn sie die Oligarchen da angreifen, wo es ihnen wehtut: bei ihrem Vermögen – etwa indem sie ihre Jachten, Immobilien und Vermögen einkassieren (vergleiche tagesschau.de, 3.3.2022).
  • Gleichzeitig lassen auch die Sanktionen durch Apple- und Google-Pay erneut erkennen, wie erschreckend einfach es ist, »kleine Bürger« vom Zahlungssystem auszuschließen, etwa um einem Land wirtschaftlich zu schaden (siehe bild.de, 4.3.2022). (Kanada hatte ja zuvor gezeigt, wie sich regierungskritische Demonstranten ausschalten lassen, indem man ihnen nicht nur mit Gewalt und Strafen droht, sondern ihnen ohne Verfahren über Nacht die Konten sperrt; siehe Essay vom 17.2.2022.)

»Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras«, so sagt eine Redensart.

Wenn Elefanten kämpfen, dann wissen weder das Gras noch die Feldmäuse darin, warum die Elefanten streiten – das Gras weiß überhaupt nichts, und wir Feldmäuse wissen eigentlich nur, dass wir nicht zertrampelt werden wollen.


Man kann sich aktuell nur schwer vorstellen, dass Putin seine Macht noch lange hält – nicht weil er ein Land überfiel (das taten auch andere), sondern – seien wir stets ehrlich – weil dies nach westlichem Verständnis ein westliches Land ist und die folgenden Sanktionen des Westens den Oligarchen dann doch das Business schwer machen werden. Putin gelang es, die Welt gegen Russland näher zusammenrücken zu lassen – und das ist definitiv nicht gut fürs Geschäft.

Die Elefanten kümmert es wenig, was ich Feldmaus über ihren großen Kampf meine. Ich will realistisch, aber nicht missmutig sein: Jeder Tag kommt nur einmal – und Krieg erinnert uns daran, dass jeder Tag auch der letzte sein kann.

Die Ukraine ist heute ein Land, das Helden braucht – Zeiten aber, die Helden brauchen, sind bekanntlich niemals gute Zeiten. Ich wünsche den Ukrainern und ihrem Präsidenten, dem Unternehmer Zelensky, baldigen Frieden, echte Freiheit und Gelegenheit, die großen Wunden heilen zu lassen.

Uns übrigen Feldmäusen wünsche ich einen kühlen Kopf, und nie einen Mangel an Mitgefühl für Opfer. Möge es uns gelingen, auch in den Zeiten des nahen Krieges jeden unserer Feldmaus-Tage schön und lebenswert werden zu lassen.

Weiterschreiben, Wegner!

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