Dushan-Wegner

02.10.2023

Indefinit (Teil 3)

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten
Entdecker verschieben die Grenzen des Bekannten. Künstler loten die Grenzen unseres Selbstbildes aus. Erfinder die Grenzen des Machbaren. Schurken und Mörder aber sind es, die solche Grenzen niederreißen, durch welche erst Leben möglich wurde.
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Wichtig: Dies ist der dritte von drei Teilen der Kurzgeschichte »Indefinit«. Falls noch nicht geschehen, lesen Sie unbedingt zuvor den ersten Teil und den zweiten Teil.

Als Karl das nächste Mal erwachte, lag er nicht mehr im medizinischen Gel. Und er konnte weiter frei atmen, gut. An seinem Kopf und seiner Brust klebten Sensoren, doch ansonsten war er frei. Nicht einmal ein Tropf an seinem Arm.

Es sah nicht wie ein Krankenhaus aus, eher wie ein, ja, Büro, in das man die zum Schlafen notwendigen Möbel gestellt hatte. Immerhin stand sein Bett nicht auf der Straße.

Die angeklebten Sensoren mussten sein Wachwerden gemeldet haben, denn die Tür öffnete sich und hereintrat … wieder Anna, und sie flötete: »Willkommen, Karl!«

»Genug!«, rief Karl.

Oha, offenbar konnte er wieder sprechen.

»Wie fühlt sich deine Haut an?«, sagte Anna.

»Genug«, rief Karl wieder, »oder … Moment, nein! Wahrscheinlich hast du meine Haut gesehen. Okay. Zieh dich aus, und wir …«

Anna lachte und unterbrach ihn: »Du brauchst noch etwas Training.«

»Training?«

»Ja, Training«, sagte Anna, »Du bist jetzt ein Indefiniter, ein erfolgreich Entgrenzter. Du bekommst es aber noch erklärt.«

Anna öffnete einen Schrank und reichte ihm Kleidung.

»Du willst dich vielleicht frisch machen«, sagte sie, »jetzt mal selbst.«

In diesem Moment flackerte Karls Bewusstsein wieder. Für einen Augenblick sah er sich selbst durch Annas Augen. Er hörte Anna lachen, und sie sagte: »Ich sehe an deinem Blick, dass du wieder wechselst. Du bist wohl gerade in mir?«

Woher wusste sie das?

»Ich bin doch auch eine«, sagte sie, »wie du, Karl!«

»Eine Entgrenzte? Stand dein Bett auch plötzlich auf der Straße?«

Anna nickte. »Ach, Bett ist noch harmlos. Ich war im Zug unterwegs, mitten am Tag. Ich war weggedöst, und plötzlich befanden sich mein Sitz und ich nicht mehr im Zug, sondern auf der Wiese daneben.«

»Du saßest auf der Wiese?«, lachte Karl, während er sich das Hemd zuknöpfte, »Weniger gefährlich als auf der Straße mit Autos!«

»Nicht wirklich«, sagte Anna, drehte ihren Kopf zur Seite und zeigte auf die Narbe an ihrem Hals. »Der Zug war in voller Fahrt. Es war ein Wunder, dass ich das überlebt habe. Eine Entgrenzung meines Blutes, ganz ohne Indefinit.«

Annas Mobiltelefon klingelte. Sie nahm den Anruf an und hörte zu. Anna sagt: »Jetzt schon?« und dann: »Okay.«

Zu Karl sagte sie: »Dein erster Einsatz. Praxistraining quasi.«

»Aber was, bitte, machen wir hier? Was macht ihr denn hier?«

»Karl, wir wissen, dass du arbeitslos bist. Wir wissen auch über …«, Anna unterbrach sich und setzte neu an: »Wir hielten es für klug, dich für viel Geld zu retten und deine Entgrenzung nutzbar zu machen.«

Anna hielt die Tür zum Flur auf, und sie rief: »Beeil dich, den Rest erfährst du unterwegs.«

Die Tür führte auf einen Büroflur mit Linoleum auf dem Boden und Neonlicht an der Decke. Alle vier Meter eine Tür.

»Schlafen da überall Leute wie ich?«, fragte Karl.

»Hinter einigen der Türen, ja«, sagte Anna und schob Karl sanft am Rücken, damit er sich beeile, durch den langen, leeren Flur zu einem Fahrstuhl. »Und hinter den anderen Türen … ach, dazu später.«

»Also«, sagte Anna, nachdem sie den Knopf zum Erdgeschoss gedrückt hatte, »wir wissen nicht genau, warum das passiert, aber alle paar Hundert Jahre kommt es zu Wellen von Entgrenzungen in verschiedenen Teilen der Welt. Naher Osten vor zweitausend Jahren. Davor in Asien. Später in Europa. Die ganzen Wundergeschichten. Leute, die in den Himmel aufstiegen.«

»Alles Entgrenzungen?«

»Ja.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Die meisten Entgrenzten starben daran. Oder sie wurden ausgestoßen und getötet. Doch die wenigen, denen es gelang, die tödlichen Entgrenzungen zu überwinden und nur die nützlichen zu behalten, die konnten echte Wunder bewirken, Menschen heilen, Seelen lesen.«

»Und heute?«

»Heute haben wir die Mittel, Entgrenzte zu retten, wenn wir sie rechtzeitig kriegen. So wie dich.«

Während sie den Flur entlanggegangen waren, war es immer wieder passiert, dass Karl ein Flackern lang sich und den Flur mit Annas Augen sah. Mittlerweile überraschte es ihn nicht mehr.

Als die Aufzugtür sich geschlossen hatte, fragte Karl: »Wer ist das ›Wir‹, von dem du sprichst? Und dann: Was machen ›wir‹?«

Anna grinste, als sie seine Frage ignorierte und stattdessen antwortete: »Wenn wir gleich aus dem Aufzug steigen und zum Auto gehen, wirst du einen, sagen wir mal, ›alten Bekannten‹ treffen.«

»Wen?«

»Als erste Übung, wechsle in ihn hinein. Und dann versuche nicht nur, durch seine Augen zu sehen, sondern auch als er zu sprechen!«

»Aber wie …«, setzte Karl an, doch sie waren angekommen, verließen den Aufzug und durchquerten die Eingangshalle eines geradezu auffällig durchschnittlichen Bürogebäudes, umgeben von anderen Gebäuden.

»In welcher Stadt sind wir eigentlich?«, fragte Karl, doch Anna hatte ihr Mobiltelefon herausgenommen und sprach hinein: »Sind unterwegs, jetzt draußen.«

Vor dem Gebäude liefen die gewöhnlichen Passanten einer durchschnittlichen Großstadt vorbei. Aus der Menge löste sich aber der Bärtige, der ihn auf der Straße vor seinem Haus wachgerüttelt hatte. Er fasste Karl wieder an den Schultern, schüttelte ihn und rief ihm mit demselben stechenden Atem ins Gesicht: »Tu es nicht! Ich war auch einer von euch, tu es nicht!«

Anna blieb stehen und gestikulierte, Karl solle in den Bärtigen wechseln.

Karl fragte sich, wie man das macht, doch bevor er eine Antwort gefunden oder sich auch nur angestrengt hätte, sah er plötzlich sich selbst aus den Augen des Bärtigen.

Und dann, zum ersten und nicht zum letzten Mal, sprach er mit dem Mund und Atem des Bärtigen und sagte zu sich selbst: »Ach was, ich habe meine Meinung geändert. Das ist ziemlich cool. Was für eine charmante Dame an deiner Seite!«

Anna schaute ihnen beiden zu und lachte: »Du Charmeur, Karl! Erste Lektion bestanden!«

Karl wechselte wieder zurück in sich selbst. Das fühlte sich gut an.

Dann bemerkte er, dass der Bärtige weinte, sich umdrehte und mit gesenktem Kopf fortging, enttäuscht und geknickt.

Anna schob Karl in Richtung eines Kleinbusses. Dessen hintere Tür öffnete sich, die beiden stiegen ein und wurden von zwei Männern begrüßt.

»Das ist der Neue?«, fragte der eine, »Taugt er denn?«

»Die erste Übung hat er bestanden.«

»Wieder mit deinem Bärtigem?«, lachte der zweite Mann.

Anna nickte.

Der Kleinbus war angefahren.

Der erste der beiden Männer sagte zu Karl: »Willkommen bei Indefinit!«

»Willkommen bei Indefinit«, sagte der erste der beiden Männer zu Karl, und bevor dieser fragen konnte, wohin sie unterwegs waren, fragte Anna: »Wieder Süden?«

Der erste Mann nickte, und er erklärte: »Im Süden haben sich wieder Grenzen gebildet. Neue Extremisten haben neu illegal Zäune aufgestellt. Und verteidigen sie sogar.«

»Und wir werden ›entgrenzen‹?«, fragte Karl, und lachend fragte er: »Wie stellen wir das an? In deren Köpfe wechseln? Die Haut auflösen?«

Anna und die beiden Männer stutzten einen Augenblick lang, und sie schauten stumm Karl an.

Dann plötzlich lachten sie.

»Er ist schon einer von uns«, rief der Erste. »Er lernt schnell«, rief der zweite, und Anna legte ihm eine Hand aufs Knie.

»Du wirst Spaß, hier bei Indefinit, haben«, sagte Anna, »aber hoffentlich nicht zu viel.«

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