Dushan-Wegner

04.05.2021

Keine politische Debatte – und das Schicksal serviert auch keinen Kaffee

von Dushan Wegner, Lesezeit 11 Minuten, Foto von Eddie & Carolina Stigson
Erste US-Firmen verbieten intern den (meist von »wokeness« befeuerten) politischen Streit, weil er Gift ins Unternehmen trägt und von den eigentlichen Zielen ablenkt. Gilt das aber nicht für die gesamte Gesellschaft, für Familien und jeden Einzelnen?
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Als er am Morgen seine Augen öffnete, sprach das Schicksal zum Propheten: »Es ist Zeit, von deinem Berg ins Tal zu steigen, und zu den Menschen zu sprechen!«

Der Prophet verzog die Mundwinkel, und brummte dem Schicksal zu: »Wie Friedrichs Zarathustra? Schicksal, fällt dir nichts Neues ein? Wie viele Propheten berufst du denn, dass du dich wiederholen musst?«

»Viele«, lachte das Schicksal, »viele Propheten sind berufen, aber wenige sind auserwählt

Er zog seine prophetenhaft buschigen Augenbrauen hoch, und sagte: »Die Hochzeit? Ernsthaft, Schicksal? Und wenn ich nicht folge, wird Heulen und Zähneklappern sein?«

»Nicht bei dir«, sagte das Schicksal, »nicht bei dir. Wirft der Zimmermann denn seine Säge gleich fort, wenn sie ihm einmal im Astloch feststeckt?« (Der Prophet horchte auf, denn er hatte das Schicksal kurz falsch gehört und ein anderes Wort verstanden. Im Alter hört man schon mal nicht so gut, nicht mit den Ohren.)

Der Prophet kratzte sich im Prophetenbart. Das Schicksal wollte schon zum nächsten Termin weiter, und also wurde es deutlich: »Ja, steig hinab von deinem Berg. Was erwartest du denn von mir zum Auftrag? Eine heilige Taube? Heiße Flämmlein? Sprechende Esel? Mach dich auf, bevor ich dich noch eine Hure heiraten lasse!«

»Ist schon gut, ist schon gut«, brummte er, und bei sich fragte er, warum das Schicksal immer so ein Riesendrama machen musste, und lustigerweise dachte das Schicksal exakt dasselbe über die Prophetenzunft. Jedoch, was sollte das Schicksal auch machen? Es gilt ja fürs Schicksal, ähnlich wie für Kriegsminister: Du ziehst in die Schlacht (hier gemeint: um die Seelen der Menschen, nicht Mesopotamien) mit den Propheten, die dir zur Verfügung stehen, nicht mit den Propheten, die du dir wünschst, oder die du in der Zukunft irgendwann gern hättest.

Mit dem Missmut alter Männer, die ihrer Aufgabe mehr Gravitas zu verleihen wissen, indem sie erst den Widerstand aufbauen, gegen welchen sie diese erledigen, stapfte der Prophet also ins Tal.

Als er in die Stadt kam und sich kraft seines Bartes und seiner schlechten Laune als Prophet ausgewiesen hatte, rollte der zuständige Beamte mit den Augen, murmelte etwas von »das Schicksal ist wieder fleißig«, und er schickte den neuen Alten zu den übrigen Propheten.

Man wies dem müden Schicksalsgerufenen ein gebrauchtes Podest zu. Er schlurfte hinauf und schimpfte: »Gibt es hier denn keinen Kaffee? Einen Kaffee! Wie lange soll ich auf den Kaffee warten?« – Vom Nachbarpodest hörte er: »Noch tausend Jahre, Herr Kollege.«

Alles Schimpfen half nichts – hat es denn je geholfen? Auftrag ist Auftrag, und der schlechtgelaunte Prophet sprach zum Volk, und was er sprach, können wir aus der Mitschrift eines Zuhörers rekonstruieren: »Hört mir zu, ihr Tauben, und ich meine nicht die Vögel! Wenig ist wahr. Viel ist gelogen. Was heute als wahr gilt, das ist nur halb wahr, und also ist es ganz gelogen. Niemand ist gut. Viele sind böse. Die Bösesten aber lassen sich heute die Guten nennen. Wer glücklich ist, der redet nicht viel von Politik. Wer aber unglücklich ist, der sucht immerzu Streit. Die verlorenen Seelen laufen hin und her, und doch kommen sie nicht voran. Wer weise ist, hat zuvor Wege und Gelände studiert. Wer klug ist, setzt jeden Tag einen Fuß vor den anderen.«

Es hatte sich tatsächlich eine kleine Gruppe von Zuhörern gefunden, die um ihn standen und ihm zuhörten. Ein Zuhörer hielt sogar ein Täfelchen und kratzte darauf, während der Prophet sprach, wie er es einen Beamten hatte tun sehen, als der König sprach. Leider konnte der Kratzende nicht schreiben, und also waren es sinnlose Kringel, die er aufs Täfelchen kratzte.

Der Prophet aber stieg von seinem gebrauchten Podest hinab, denn er vermisste schon wieder seinen Berg. Zum Schicksal aber brummte er: »Bist du zufrieden? Mehr gibt es heute nicht. Was erwartest du auch? Anderen Propheten schickst du außerirdische Raumschiffe, ich bekomme nicht einmal einen Kaffee.«

Es weiter kochen zu lassen

Es passiert ja immer wieder, dass Angestellte ihren Job kündigen, auch schon mal mehrere. Wenn allerdings gleich ein ganzes Drittel der Belegschaft kündigt, und das bei einem amerikanischen Tech-Unternehmen, dass Spitzengehätler zahlt und eine Art »intellektuelle Vorbildfunktion« auch für viel größere Unternehmen hat, dann ist das mehr als eine Randnotiz.

Die Rede ist vom amerikanischen Unternehmen »Basecamp«. Ich habe die Debatte in den US-Medien verfolgt, etwa bei Hacker News (news.ycombinator.com/item?id=26998127) und auf Twitter, man findet eine deutschsprachige Zusammenfassung bei heise.de, 3.5.2021.

Grob gesagt geht es darum, dass die politischen Debatten innerhalb des Unternehmens für seine politischen Meinungsstärke so ausgiebig und emotional intensiv wurden, dass die beiden Firmengründer sich gezwungen sahen, ab sofort politische Debatte auf den internen Plattformen und offiziellen Kanälen des Unternehmens zu verbieten.

Das von californialinken Journalisten nachgebaute Protokoll der Online-Sitzung (theverge.com, 3.5.2021), bei welcher es zum großen Krach kam, schildert das Gesagte – und es ist sehr bezeichnend für diese Zeiten. Jener Bericht ist wohlgemerkt von Linken geschrieben, und er soll die Empörten rechtfertigen – sie merken selbst nicht, wie »abgedreht« ihre Forderungen sind.

Wir lernen in diesen Debatten auch manche rhetorischen »Tricks« woker Aggressoren: Man stellt übelste, vulgäre und hanebüchene Anschuldigungen auf, doch jede Verteidigung und jedes Gegenargument werden mit »I don’t feel safe« / »ich fühle mich nicht sicher« blockiert. Wer sich als Minderheit »identifiziert«, der muss in der giftigen US-linken Debattenkultur nichts argumentativ begründen, denn er kann jedes Gegenargument mit »gefühlter Unsicherheit« verstummen lassen. Wie soll in einer solchen Atmosphäre irgendein gemeinsames Projekt erfolgreich sein, ob ein Unternehmen, eine Gesellschaft oder eine Familie?

Die »social justice warriors« konstruieren aus allem einen Angriff auf ihre Freiheit und ihre Menschenrechte, selbst ein Scherz über Namen von Dritten gilt als fast-schon-Genozid. Und sie bestehen darauf, weiter ihre sechsstelligen Jahresgehälter zu erhalten, während sie in der Firma statt zu arbeiten ihre politischen Ideologien debattieren und eine giftige Atmosphäre der dauernden Anschuldigungen schaffen.

Wie soll ein weißer Firmenchef mit Angestellten arbeiten, die ihm dauerhaft »white supremacy« und Mitschuld an Genozid vorwerfen? Wie kann eine Firma sich auf den Dienst am Kunden und das Verdienen der üppigen Gehälter konzentrieren, wenn die Angestellten damit beschäftigt sind, das Gift primitiver politischer Schlagworte mit den Ressourcen der Firma weiter kochen zu lassen?

Wer mit der neuen Unternehmensregel nicht einverstanden war, dem wurde ein sehr großzügiges Kündigungs-Angebot unterbreitet (ein halbes Jahr Weiterzahlung der ohnehin guten Gehälter) – und ca. 20 der ca. 60 Angestellten nahmen es wohl an.

Die wahren Gründe, warum die einzelnen Angestellten das Unternehmen Basecamp wirklich verließen, mögen verschiedene sein. Vermutlich gingen nicht alle nur deshalb, weil sie wirklich in der Firma ihre Twitter-Kriege fortführen wollten. Andere denkbare Gründe sind, dass der Basecamp-Technology-Stack (um Ruby-on-Rails zentriert) etwas langweilig und überkomplex geworden sein könnte, und gute Programmierer auch deshalb gut sind, weil sie gern ganz neue Technologien lernen (Basecamp stellt eine Projektverwaltungs-Software her und experimentiert mit vereinfachter E-Mail – es gibt spannendere Aufgaben). Ein anderer Grund könnte sein, dass der Tech-Arbeitsmarkt in der Krise noch »heißer« wurde, man also den Sommerurlaub 2020 nachholen kann, um dann einen neuen Job mit neuen Karrieremöglichkeiten zu finden.

Interessanter (und für uns wichtiger) als die Gründe der Einzelnen ist die neue Unternehmensregel selbst: Keine politische Debatte.

Kein Whisky in Lynchburg

Basecamp ist nicht das einzige Unternehmen, das in letzter Zeit alle internen politischen Debatten verbietet. Auch der Crypto-Börsen-Anbieter Coinbase verbot quasi im Herbst 2020 alle internen Debatten, die nicht dem Unternehmensziel dienen, aber spalten können (sprich: den ganzen woken Irrsinn, den BLM-Rassismus et cetera).

Man hörte (sprich: man las im Internet) den social-media-üblichen Aufschrei der »Woken« und einige Angestellte kündigten (bloomberg.com, 2.10.2020), doch ein halbes Jahr später hört man, dass die Verbliebenen über tausend Angestellten zumeist sehr glücklich damit sind, bei der Arbeit vom ansonsten allgegenwärtigen politischen Gezänk verschont zu werden.

Bislang kannte man es ja zumeist (halb im Scherz, halb ernst) von Eltern kleiner Kinder, dass sie zur Arbeit gingen, um sich zu erholen. Bei politik-freien Arbeitgebern geht man zur Arbeit, um sich vom politischen Dauergezänk zu erholen.

In Ländern wie Deutschland und gewissen US-Staaten kann auf dem Einzelnen ein kontinuierlicher Propaganda-Druck lasten, der seine Lebensqualität mindert. Ein Angestellter, der kreativ und auf die Aufgabe fokussiert sein soll, wird schlechtere Ergebnisse abliefern, wenn er vom politischen Gezänk belastet und abgelenkt ist.

Die Rolle von Unternehmen und vor allem Konzernen im Propagandastaat bezüglich politischer Debatte ist widersprüchlich und denkbar zynisch – und sie erinnert an andere Laster (nein, wir meinen nicht die Fahrzeuge). Die Bürger von Monaco dürfen nicht im Casino um Geld spielen. In Lynchburg, Tennessee, der Heimat von Jack Daniels, darf kein Whisky ausgeschenkt werden. China betreibt auf Twitter viele Propaganda-Accounts, verbietet aber Twitter in China selbst. In den Firmenzentralen und Produktionsstätten von Tabakfirmen darf oft nicht geraucht werden (vergleiche etwa usnews.com, 23.10.2014).

Konzerne zahlen Millionen an Stars für »social justice marketing« – es lohnt sich – und dann lassen sie T-Shirts mit den »woken« Slogans von Billigstnäherinnen nähen. Es wird nur konsequent und zu diesen Zeiten passend sein, wenn Unternehmen nach Außen hin täglich Öl und Spaltung ins politische Feuer gießen, aber intern sich das linke Gift verbieten. (Wobei Basecamp selbst beides unterbinden will – also externes und internes politisches Zündeln. Gewisse Konzerne sind da zynischer und aggressiver.)

Galle des Tages

Ja, ich weiß, dass ich viel und ausgiebig über Politik rede und schreibe. Und doch sagt mir (nicht nur) mein Instinkt, dass es besser wäre, daheim und mit den Kindern nicht über Politik zu sprechen. (Nachdem ich beim TV gearbeitet habe, als Videojournalist und als Ausbilder, schrieb ich erst einmal ein Anleitungs-Buch – und später beschloss ich, meine Kinder denkbar weit vom TV zu halten, und ich weiß, dass ich fürwahr nicht der einzige (ehemalige) TV-Arbeiter bin, der es ebenso hält).

Gerade heute, gerade in der zunehmend giftigen und vergiftenden, in der dummen und verdummenden deutschen Luft, gerade heute wäre es eine gute Idee, uns eben dieser giftigen politischen Luft eine Zeit lang zu entziehen.

Wenn Unternehmen es verbieten, intern über Politik zu reden (einige von ihnen aber eben das Feuer, das sie intern verbieten, in der Gesellschaft des Profites wegen anzünden), welche verheerende Wirkung müssen diese giftigen linken Debatten in der Gesellschaft anrichten? Im Essay »Hast du deinem Verräter die Windeln gewechselt?« schrieb ich über die Auswirkung des von der Propaganda geträufelten Giftes in einer einzelnen Familie. Wir erleben es aber ein jeder, jeden Tag. – »Was du nicht willst, dass man deiner Firma tut«, so das Motto gewisser Konzern-Manager (und wohl nicht nur was das Gift der Propaganda angeht), »das kannst du noch immer der Gesellschaft antun.«

Wir sollten präzise unterscheiden: Die Ereignisse der Welt nicht wahrzunehmen, das wäre blind und potentiell tödlich. Jedoch: Zu glauben, die Ereignisse der Welt verändern zu können, indem man sich über sie empört, das wäre eine Illusion und eine Verschwendung von Lebenszeit.

Wenn du die Welt verändern willst, wirst du es nicht durch rasende Debatten am Stammtisch oder in der Kaffeekantine tun. Schau deinen Kindern bei den Hausaufgaben über die Schulter. Opfere eine Stunde deiner ach-so-wichtigen Zeit und hör deiner alten Nachbarin zu, und höre ihr ehrlich zu, wie langweilig es deiner nervösen Seele auch sein mag.

Ein sorgfältig gekochtes Abendessen, ein zufriedener Kunde, wenn dein Geschäft ein ehrliches ist, ein Stapel frisch gewaschener und gefalteter Wäsche, ein Kind, das nicht ganz dumm ist, und immer wieder ein freundliches Wort, das unerwartet gesagt wird, eine jede dieser Angelegenheiten ist so viel wichtiger, so viel mehr deiner Zeit wert, deiner Mühe, deiner Aufmerksamkeit und deiner Liebe, als sich über die politische Galle des Tages zu empören.

Die Lava

Das politische Gift, das täglich aus dem Fernseher und all den anderen Kanälen quillt, welche die Reichen in die Wohnzimmer der Armen gelegt haben (»The rich have got their channels in the bedrooms of the poor«, Leonard Cohen, via YouTube), es ist wie die tödliche Lava eines Vulkans!

Schau nicht weg, wenn die Lava fließt, prüfe ihren Weg und richte dich auf sie ein, doch glaube nicht, dass du dich retten kannst, indem du in die Lava springst.

Nochmal jene Passage von Leonard Cohen, aber mit der folgenden Zeile: »The rich have got their channels in the bedrooms of the poor and there’s a mighty Judgement comin‘ but I may be wrong« – »Die Reichen haben ihre Kanäle in die Schlafzimmer der Armen gelegt, und ein großes Gericht kommt, aber ich könnte falsch liegen.« – Hier das gesamte Lied, aber von Tom Jones gesungen; gönnen Sie sich die vier Minuten, und drehen Sie die Lautstärke auf – Sie haben es sich verdient!

Absätze (nicht die an Schuhen)

Jener Prophet, der am Morgen vom Schicksal gerufen wird, zu den Menschen zu sprechen – er wurde gerufen. Mich beschleicht der Verdacht, dass wir selbst zu oft dann unsere Meinung abgeben, wenn wir niemandem damit nutzen außer unserer eigenen Schwatzfreude – und dass wir dann, wenn es drauf ankommt, feige schweigen. – Schweigen, wenn zu schweigen klüger ist, und reden, wenn nicht zu reden charakterlos wäre, und auch dann, und gerade dann auf kluge Weise zu reden – ach, wo ist die Schule, wo man das lernt?

Ich weiß nicht, wie viele heute um mich herum stehen – aber Sie lesen es doch – und wir beide zusammen sind zwei mehr als niemand, und also will ich einfach wiederholen, was jene auch mir inzwischen etwas fremde Figur weiter oben sagte, und diesmal frech ohne Anführungszeichen – dafür aber mit Absätzen (und ich meine nicht die an Schuhen)!

Wenig ist wahr. Viel ist gelogen. Was heute als wahr gilt, das ist nur halb wahr, und also ist es ganz gelogen.

Niemand ist gut. Viele sind böse. Die Bösesten aber lassen sich heute die Guten nennen.

Wer glücklich ist, der redet nicht viel von Politik. Wer aber unglücklich ist, der sucht immerzu Streit.

Die verlorenen Seelen laufen hin und her, und doch kommen sie nicht voran.

Wer weise ist, hat zuvor Wege und Gelände studiert.

Wer klug ist, setzt jeden Tag einen Fuß vor den anderen.

Weiterschreiben, Wegner!

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