Ich sitze am Meer und ich kann bis zum Horizont sehen. Vor mir bricht das Wasser an den schwarzen, scharfen Felsen. Ich rieche Salz und Algen.
Der klare Himmel wölbt sich über mir, eine majestätische Halbkugel.
Das Blau des Himmels ist ein Lichteffekt, der sich am Tag vor das Weltall zieht. Der Tag ist zum Leben da! Der Blick in die schwarze, sternengeschmückte Unendlichkeit könnte davon ablenken, dass Arbeit erledigt werden muss, Kinder erzogen und Rechnungen bezahlt.
In der Nacht dagegen – selbst im Schlaf! – schauen wir ins unerforschte Unendliche. Im Traum und besonders im Halbschlaf blicken wir in uns selbst hinein. Der Blick in den Nachthimmel aber, der ist – wo heute noch möglich – ein Blick in die schwarze Tiefe des Weltalls.
Und dann, eines sonnig frischen Tages, dringt das Weltall durch mein Tagesblau hindurch.
Mitten am Tag sehe ich den Mond im blauen Himmel stehen.
Der Mond, am Tag!
Eine Grenzüberschreitung! Monsterhaft! Der Mond gehört in die Nacht, wie die Eule, der Fuchs und die Schlaflosigkeit.
Der Mond hat wohl vergessen, in welche Tageszeit er gehört, und so verschränkt sich in diesem Augenblick die Schönheit des Tages am Meer mit der Erinnerung aus dem Weltall, dass wir auf einer größtenteils wasserbedeckten Kugel leben, die vor sich hin, immer im Kreis, durchs Weltall kullert.
Ich fühle, was Kant das »Sublime« nennt. Und ich werde mir meiner Einsamkeit bewusst.
Meine Einsamkeit besteht nicht daraus, dass keiner in der Nähe gewesen wäre, oh nein. Ich sitze ja an der Promenade.
Hinter mir wird flaniert, man lacht, man redet über Belangloses, Beruf, Krieg und so weiter.
Vor mir spielt mein lustiger Hund. Er jagt Steinchen nach, die sich unter seinen eigenen Pfoten gelöst haben.
Meine Einsamkeit besteht darin, dass mich die Präsenz des Mondes mitten am Tag in der Seele berührt – und die übrigen Anwesenden offenbar nicht.
Ich denke erneut an Goethes Wort: »Ich habe auch Brüder, sagt die Zeder, wenngleich nicht auf diesem Berge.« (In Essays zitiert: 2018, 2020, 2021)
Die Unwahrscheinlichkeit dieser Konstellation – blaue Kugel im Weltall, von blauem Himmel umhüllt, Sonne auf meiner Haut, Salz in der Luft, Mond am helllichten Tag – mich erfasst sie.
Die anderen Leute ergreift es nicht. Muss es auch nicht. Das Leben ist kein Poesiealbum. Es gilt, erwachsen zu werden. Erwachsen, ernsthaft und auf keinen Fall sentimental. (Wenn Sie in diesem Text bis jetzt dabei sind, gehören Sie zu einer Minderheit. Willkommen!)
»Normale« Menschen müssten schon von Pubertät oder Cannabis verwirrt sein, um solche Gedanken über den Mond zu Mittag zu hegen. Ich bin von Natur aus so – und melancholisch dazu.
Ich will der Mehrheit keinen Vorwurf daraus machen, dass sie ist, wie sie ist. Und mir auch nicht.
Meine Einsamkeit ist meine. Ich wollte keine andere haben. Doch wenn du, der du mich liest, beim Anblick des Mondes zu Mittag überm Meer auch ein klein wenig ergriffen bist, dann lass uns doch zusammen einsam sein!