Dushan-Wegner

01.09.2021

Nach der Utopie

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Weiqi Xiong
Utopien sind übel, denn die, die sie umsetzen, sind regelmäßig Trottel und neigen zur Gewalt. Dystopien aber beschweren das Gemüt und stören den Schlaf. Wir brauchen Hoffnung, die aus der Handlung kommt, aus der mutigen, fleißigen Tat.
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Auch wenn Ihre Schulmathematik etwas zurückliegen mag, werden Sie mir gewiss sagen können, was die Wurzel von Neun ist – richtig: Drei, denn Drei mal Drei ergibt Neun. Entsprechend können Sie mir gewiss schnell die Wurzeln von Vier, Fünfundzwanzig oder Hundert nennen (und im Kopf haben Sie es eben getan).

Auch die Wurzel von Eins werden Sie schnell sagen können, wenn Sie auch vielleicht einen Sekundenbruchteil länger dafür brauchen – die Wurzel von Eins ist natürlich Eins.

Was ist aber mit der Wurzel von Minus Eins? Welche Zahl, mit sich selbst multipliziert, ergibt den negativen Wert von Eins?

Einige von Ihnen wird es vor solchen Fragen ekeln, und Sie werden womöglich laut »Iiiih!« sagen, andere wissen die Antwort, und auch sie könnten »Iiiih!« ausrufen – denn die Lösung ist tatsächlich »i«.

»i« ist die Basis der »imaginären Zahlen« (mehr dazu bei Wikipedia) – und der Zweck von »i« ist es, im Quadrat eine negative reelle Zahl zu ergeben.

Mathematiker mögen mich nun dafür hauen, doch für mich als interessierten Beobachter der mathematischen Kunst hat diese ganze imaginäre Angelegenheit etwas Amüsantes an sich: Man findet nichts, was im Quadrat eine negative Zahl ergibt – also definiert man sich einfach etwas, dass per Definition das tut, was eigentlich unmöglich ist. Ja, man könnte diesen Vorgang beinahe utopisch nennen – doch imaginär ist nicht minder schön beschreibend.

Ein nützlicher Gag

»Wenn wir nur dieses Rädchen drehen, wenn wir nur jene Regel neu einführen, wenn wir nur die Leute da umerziehen und die Leute dort mundtot machen, dann wird gewiss Frieden und Gerechtigkeit einkehren, für immer und für alle!« (»Alle« bis auf ein oder zwei Leute, oder hundert Millionen von ihnen – eine Revolution ist halt kein Ponyhof.)

So klingen sie doch, im Kern und in Wahrheit, die großen Utopien (und »unser« bezieht sich hier großzügig auf die Menschheit). Die wirklich großen Utopien haben heute eher sentimentalen Wert. Nicht einmal die Kommunisten selbst glauben noch an den Kommunismus. Für Konzerne sind Utopien ein billiges Narrativ fürs Marketing an die wertvolle Schicht der Kaufstarken und doch Ungebildeten. Für Mädels aus reichen Familien sind Utopien ein nützlicher Gag für die eigene Promi-Karriere.

Die Welt kennt heute nur noch zwei Utopien. Die eine Utopie wird in vielen Staaten Afrikas geglaubt, nämlich die, dass dir als Einwanderer in Deutschland ein Haus gebaut und ein Einkommen geschenkt wird.

(Randnotiz: Wenn einer die These aufstellte, dass Allah den ungläubigen Deutschen befohlen hat, den Gläubigen ein Haus zu bauen und den Familien der Gläubigen mit Geld und Tat zu dienen, würde die deutsche Realität seiner These widersprechen oder sie eher bestätigen?)

Die andere, die »neue deutsche« Utopie wird von jenen geglaubt, die meinen, es würde »schon noch gutgehen«, wenn man nur ein wenig noch die Zähne zusammenbeißt.

Süßigkeiten, den ganzen Tag lang

»Utopie« das stammt aus dem Griechischen. Das »U« steht für »nicht« und das »Topie« steht für einen Ort. Die Utopie ist der Ort, der nicht existiert, doch von dem wir uns in sentimentalen Momenten wünschen, dass es ihn doch geben möge.

Was und wer schreibt aber die Landkarte unserer Utopien? Es sind unsere Emotionen, welche die Landkarte schreiben, unsere Wünsche und Hoffnungen.

Die Utopie eines Kindes ist eine Welt, in welcher es den ganzen Tag lang Süßigkeiten essen kann. Die Utopie eines Erwachsenen könnte eine Welt sein, in welcher er nicht mehr arbeiten muss. Die Utopie eines »woken« Linken mag eine sein, in welcher niemand etwas sagt, dass die Gefühle des Linken stört.

Nur das zweite Problem all dieser Utopien ist, dass die betreffenden Utopien nicht zum erhofften Ergebnis führen werden. Der »woke« Linke wird nicht die erwartete Erlösung finden, wenn er die Sprache aller Mitmenschen kontrolliert. Der Erwachsene wird nicht glücklich werden, wenn er nicht mehr arbeitet. Das Kind in seiner Utopie wird bald am vielen Zucker krank werden. – Dass Utopien in ihrer realen Durchführung gar nicht zum erhofften emotionalen Zielzustand führen würden, das ist ein Problem von Utopien generell, doch es ist nur das zweite Problem!

So-und-so

Das große Problem der Utopien ist, dass ihre Mathematik meistens gründlich falsch ist. Die Prämissen sind unvollständig oder fehlen gleich ganz, die Schlussverfahren sind fragwürdig – und wer auf die Fehler im Schluss hinweist, der gilt schnell als Feind (Klassenfeind, Ketzer, Abweichler, Rechter, et cetera).

Die Prämissen der Utopie sind nicht »nur« unvollständig, und sie sind nicht »nur« falsch! Die Prämissen der Utopie gehören zu einer irreparabel falschen Kategorie!

Wer die Welt zum Besseren verändern will, der muss sagen: »Dies sind die möglichen Wege von hier aus, lasst uns einen der guten Wege gehen!« – Genau das ist aber nicht, wie eine Utopie funktioniert!

Die Utopie sagt: »Wäre es nicht schön, wenn die Welt so-und-so wäre und die Menschen so-und-so fühlen würden? Lass uns so tun, als ob die Welt so-und-so wäre – und lass uns die Menschen zwingen, so-und-so zu fühlen

Ein Unterschied zwischen Utopisten und Mathematikern ist es, dass Mathematiker wissen, zugeben und merken, wenn ihre Mathematik im reellen Raum keinen Sinn ergibt und sie sich Prämissen dazu-imaginieren müssen.

In Geist und Mund

»Jetzt hat der Wegner die Utopie schlechtgeredet«, so mögen Sie, geschätzter Leser, nun sagen, »doch was hat er Besseres anzubieten? Das träge Sichabfinden vielleicht? Dystopien gar?«

Nun, ich danke Ihnen für diese Frage, die ich Ihnen in Geist und Mund legte, und ich will gern antworten!

Zuerst, zu den Dystopien: Eine Utopie ist ein fiktiver Ort, der nicht von der Realität und Kausalität der Welt ausgeht, sondern von den wabernden Wünschen und Gefühlen des Publikums (diese bei Gelegenheit erst anheizend).

Eine Dystopie aber ist nicht eine »Anti-Utopie«! Eine Dystopie ist tatsächlich eine Haltung, die davon ausgeht, dass von allen denkbaren Möglichkeiten weiterer Gesellschaftsentwicklung die schrecklichste eintritt. Die Dystopie ist nicht das Gegenteil der Utopie, sondern das Gegenteil der Hoffnung! (Das Gegenteil der Utopie ist das Sichabfinden.)

Es wäre unziemlich!

Wenn die Utopie nichts taugt, und die Dystopie lediglich auf andere Weise übel ist – was nun?

Im Essay »Die nächste Pille« (24.11.2020) zitierte ich Woody Allens Gertrud Stein – und da jener Auftrag gültig bleibt, so sei auch dieser Absatz von dort übernommen: »The artist’s job is not to succumb to despair but to find an antidote for the emptyness of existence«, sagt Gertrud Stein in Woody Allens Midnight in Paris; zu Deutsch etwa: »Die Aufgabe des Künstlers ist es, sich nicht der Verzweiflung zu ergeben, sondern ein Gegenmittel zu finden für die Leere unserer Existenz.«

Wer wäre ich, Stein oder Allen zu widersprechen, ob durch freches Wort oder ausbleibende Tat? Es wäre unziemlich!

Ich meine, dass beide, Utopie wie Dystopie, in sich ein Stück von jenem tragen, was die Hoffnung möglich macht (weshalb sie beide in den Herzen der Menschen wirken, jeweils auf die eigene Weise) – wenn auch beide, Utopie wie Dystopie, zu viel von dem beinhalten, was sie beide zu zerstörerischen Ideen werden lässt.

Die Utopie liegt richtig darin, dass man an einer besseren Zukunft arbeiten kann (und sie irrt auf mörderische Weise darin, dass sich fehlende und widersprechende Prämissen ignorieren oder gar »imaginieren« und befehlen lassen).

Die Dystopie liegt richtig darin, dass die Zukunft eine praktische Konsequenz der Gegenwart und vor allem der realen Kausalitäten ist (vor allem denen des menschlichen Charakters), wie sie sich über Jahrtausende bewährt haben (und ich hoffe sehr, dass die Dystopiker darin irren, dass verlässlicherweise im Spektrum der Möglichkeiten die übelste eintreten wird).

Vorrat für Jahrhunderte

Ich glaube an die Hoffnung, welche die Handlung gebiert (ob Sie nun die Hoffnung oder Handlung als Gebärende einsetzen und das andere als Geborenes).

Erspart mir eure Utopien – es ist mir zu viel Imaginiertes darin – ich habe stabilere Luftschlösser aus dem Dampf über meinem Teekessel gebaut!

Ich brauche eure Dystopien nicht – meine Schränke und Schubladen sind voll mit dunklen Träumen, ein Vorrat für Jahrhunderte!

Meine Schulmathematik mag schon einige Jahre zurück liegen, doch nach meinen Berechnungen besteht mein bester Grund zur Hoffnung darin, eine realistische Chance zu suchen, und sei es die zarteste, diesen einen Spalt im Felsen der Unmöglichkeit, und dann jeden Tag daran zu arbeiten, diese kleine Chance nie ganz verschwinden zu lassen – die eine zarte Chance vielleicht sogar größer werden zu lassen!

Weiterschreiben, Wegner!

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