Dushan-Wegner

06.02.2021

Wo ist der ganze Quatsch hin?

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Anthony Dalanoix
Hilfe! Die Erde dreht sich schneller! Wegen Klima! – Ich kann mich fast nicht entscheiden, ob ich in Panik ausbrechen oder lachen soll. Was meinen Sie?
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Ein sehr lieber Mensch hat meinen Kindern ein sehr großes Glas Nutella geschenkt. Die Tochter war höflich angetan, doch wie glücklich war der kleine Leo!

Wir Eltern versorgen die Kinder ja mit allem, was sie brauchen – oder was sie unserer besten Einschätzung nach später einmal brauchen werden.

Ich rede ja nicht nur vom Materiellen, mit dem wir sie versorgen. Ich rede auch von Zeit und Freizeit, sei es die wirklich freie Freizeit (etwa wenn unsere wohlerzogenen Musterkinder mit den frechen Blagen anderer Leute spielen), oder die, äh, organisierte Freiheit, etwa wenn sie heute im Musikunterricht die Mutter und den Liszt geben.

Doch, in jenem Moment vor zwei Tagen, und eigentlich bis heute, konnte nichts, was wir Eltern in unserer gütigen Weisheit bereitstellten, mit diesem großen Glas Nutella mithalten.

»So ein Quatsch!«, dachte ich lachend, »so ein schöner Quatsch.«

Über nichts eigentlich

Im Essay vor diesem (4.2.2021) notierte ich: »Die Evolution hat kein Interesse daran, dass wir glücklich werden.«

Wir Erwachsenen (oder sollte ich sagen »Erwachsene wie ich«?) tun uns gelegentlich mit dem »Quatsch« schwer. Was für eine Zeitverschwendung! Aller Quatsch ist doch eine Verschwendung von Ressourcen, von Möglichkeiten und, ja, gelegentlich sogar eine Verschwendung von Gesundheit!

Und erst das »Quatschen«, wovon »Quatsch« ja abgeleitet ist! Dieses ziellose Reden, wenn man nichts wirklich zu sagen hat, doch eben dies sehr manifest ignoriert und zugleich demonstriert! (»Wir haben gestern telefoniert, eine Stunde lang.« – »Worüber?« – »Ach, über nichts eigentlich.«)

Die Evolution hat kein Interesse am Quatsch, so meint der Erwachsene zuweilen, also sollten Erwachsene es ihr gleichtun – ob solche Schlüsse schlüssig sind, darüber bin ich selbst unschlüssig. (Wäre die Debatte über die reproduktive Nützlichkeit des Quatsches gar selbst wieder Quatsch?)

»Sekunde, die ins Nichts führt«

Nein, ich will die Quatschköpfe und die Quatschkritiker gar nicht gegeneinander ausspielen, nicht heute! Ich habe eine bessere Idee! Lasst uns, wie mein Vater sagt, einen Weg finden, so dass der Wolf satt wird und die Ziege doch heil bleibt!

Was meinem Sohn die Nutella ist, das sind für mich schöne Quatsch-Nachrichten, und die hier ist eine, die ist so schön, da drehe ich fast schon durch (und sie ist, um zwei Ecken und eine Treppe hoch gedacht, tatsächlich wie Nutella): »Erdrotation – Warum dreht sich die Erde immer schneller?« (welt.de, 5.2.2021) – Die Schlagzeile klingt dramatisch, kein Zweifel! Und wie man heute erwartet, hat es etwas mit Klima zu tun (und damit wohl Subventionen, vermute ich).
»Der 19. Juli 2020 war der kürzeste je gemessene Tag. Dieser Sommertag ging 1,46 Millisekunden früher zu Ende als ein durchschnittlicher Tag«, so lesen wir (ebenda). Ist es vielleicht Quatsch, ist es Ernst? Nun, im großen Finale jenes Stückes werden wir gewarnt, es könnte »erstmals eine Zeit geben, die es nicht gibt; eine ausgefallene Sekunde, die ins Nichts führt« (ebenda).

Ich hatte Ihnen doch versprochen, dass es sich als eine Nachricht wie Schokonusscreme herausstellen würde: Von diskutablem Nährwert, dafür aber sehr süß und auch ein wenig klebrig. Etwas Ernst und etwas Quatsch, und ein jeder entscheidet selbst, was der Vorwand seines Genusses sein soll.

Brot mit Quatsch

»Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben?«, so fragt Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches; IV/213) So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist dies der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück gibt, gibt es Freude am Unsinn.«

Heute morgen gab es für Leo neben dem geschnittenen Obst diesmal auch Vollkorn-Toast mit Nutella. Brot mit Quatsch! Was für ein Leben! Ich bin mir sicher, Leo rotierte noch schneller um sich selbst als ohnehin jeden Morgen, mindestens um 1,46 Millisekunden pro Umdrehung.

Die Zeiten, liebe Leser, sind ernst genug. Von Zeit zu Zeit brauchen wir  zwischendurch etwas Quatsch, damit wir nicht selbst noch durchdrehen, als wären wir ein ganz eigener Planet.

Beim tatsächlichen süßen Quatsch kann der Zucker zu Zahnschmerzen führen – bei den Nachrichten ist es durchaus anders: Bei den Nachrichten sind es die ernsthaften, seriösen und erwachsenen, die uns den Zahnschmerz der Seele einbringen – und jede Millisekunde Quatsch lenkt uns von all dem Ernst der Lage ab.

Morgen wieder Atlas

Ich verneine ja gar nicht den Ernst der Sache! Niemals! – Vielleicht ist es ja durchaus eine ernste Angelegenheit, mit den Millisekunden und der Erdachse, doch heute – und so viel Nutella dürfen wir uns gönnen – heute beschließe ich, den Quatsch an der Sache zu sehen. (Morgen versuche ich mich dann wieder als Atlas (obwohl, der hat die Erde nicht verlangsamt, der hat den Planeten auf seinen Schultern getragen (ich sollte mich eher als Josua versuchen, der ließ die Erde gleich ganz still stehen, glaube ich (Josua 10:13))).)

Nur Mut also, liebe Freunde, mehr Mut zum Quatsch! (Und hütet euch vor den Zahnschmerzen.)

Weiterschreiben, Wegner!

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