Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Sie kennen diesen Satz. So beginnt »Der Prozess« von Franz Kafka (online etwa bei zeno.org).
Es ist der Morgen seines 30. Geburtstages, als Kafkas Protagonist verhaftet wird. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Er ist festgenommen und darf sich doch frei bewegen. Natürlich ist er aber nicht innerlich frei. Die Anklage beschäftigt ihn unablässig.
Er will sich verteidigen und kann doch nicht. Er weiß und versteht daher auch nicht, wessen er angeklagt ist. Er läuft immer wieder gegen die Bürokratie an.
Die Bürokraten nehmen sich sehr ernst, und ihre Vorgänge sind sehr ernst – doch sie ergeben keinen Sinn. Dass die Vorgänge keinen Sinn ergeben und der eigentliche Gegenstand der Anklage unklar ist, das ist das Problem des Angeklagten, nicht der Behörden.
»an inländische Stellen übermitteln«
Ein gefühlt immer populärer werdendes staatliches Erziehungsmittel im deutschen Propagandastaat ist die Hausdurchsuchung. Mit formeller Genehmigung durch einen Richter, aber ohne Verfahren oder Möglichkeit zur Verteidigung, dringt die Polizei in die Wohnung des Missliebigen, demütigt ihn so, verstört seine Kinder und nimmt ihm die elektronischen Geräte weg.
Angeblich will man bloß »Beweise sichern« oder so, doch ich kenne niemanden, der das den Behörden wirklich glaubt. Als tatsächlicher Effekt bleibt aber die Demütigung, der Machtbeweis, die Klärung tatsächlicher Machtverhältnisse, sprich: die Verurteilung und Bestrafung ohne Gerichtsverfahren.
Und jetzt will das Faeser-Haldenwang-Gespann die Daumenschrauben noch fester anziehen. Gestern notierten wir, wie offenbar für den Verfassungsschutz der rechtliche Rahmen geschaffen wird, um politisch störende Personen (»Extremisten«) in der Zivilbevölkerung aktiv anzuschwärzen.
Man muss eine »umgekehrte Denunziation« befürchten. Nicht nur fördert die Regierung aktiv das Denunziantentum, also die Meldung von Abweichlern bei Behörden (rnd.de, 6.4.2023). Der Geheimdienst soll auch Bürger in ihrem Umfeld verpfeifen können.
Der kluge Ralf Schuler fragt dazu aktuell sehr richtig: »Wer schützt die Bürger vor Faesers Verfassungsschutz?« (nius.de, 27.10.2023).
Laut neuem Verfassungsschutzgesetz (siehe bmi.bund.de, § 20) kann der Geheimdienst »auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte« »personenbezogene Daten an inländische Stellen übermitteln«, wenn es darum geht, Personen »zu deradikalisieren« oder wohl auch wenn ein »Grundstückserwerb« im Raum steht.
Gleichzeitig gilt aber auch: »Im Fall der Nutzung der Daten mit Außenwirkung darf bei einer betroffenen Person auch nicht der Eindruck entstehen, dass die öffentliche Stelle in diesem Fall zur operativen Anwendung unmittelbaren Zwangs befugt ist.«
Bereits im Gesetz scheint angelegt zu sein, dass der deutsche Geheimdienst im Umfeld der missliebigen Person einschüchternd Kontakt aufnehmen kann – und sich dann herausreden will, man habe je keinen »unmittelbaren Zwang« angewendet. Bloß »mittelbaren Zwang«, haha!
(Übrigens: Deutschland lässt inzwischen verbotene Meinung offenbar auch im Ausland verfolgen, siehe tagesschau.de, 26.10.2023.)
Was für Philosophen?
Bereits im Essay vom 29.1.2019 notierte ich die gefährliche Absurdität, dass Geheimdienstler sich als Amateurphilosophen betätigen und eigene Begriffe auf dem intellektuellen Niveau von Erstsemestlern etablieren. (Grund: Der Jurist, der sich sicher ist und/oder gewinnt, sieht das als Erfolg und ist mit sich zufrieden. Dem Philosophen aber, der sich sicher ist, wird damit auch bewusst, dass in dem Moment falsch zu liegen seine einzige Gewissheit ist.)
Selbst wenn die Begriffe des Verfassungsschutzes nicht intellektuell fragwürdig wären, dafür aber juristisch wasserdicht, wäre es ein Problem, dass Meinungen mit Geheimdienstmitteln verfolgt werden, noch dazu ohne Verfahren. Die schräge Schlichtheit macht es nur noch schlimmer! Würden die Verantwortlichen aber nicht so banal denken, würden sie es überhaupt alles so angehen?
Immer zweifellos
Wenn du Josef K. bist, und wenn man dich morgens aus dem Bett holt, wirst du nicht diskutieren können. »Die Schuld ist immer zweifellos«, heißt es in Kafkas Strafkolonie (siehe zeno.org), und wenn dein Haus durchsucht wurde, dein Konto und dein Job gekündigt, wenn irgendwann du gebrochen bist und deine Familie das alles nicht mehr mitmachen will, dann interessiert es die Behörden genau gar nicht, ob irgendein Gericht ein Jahr später feststellt, dass es alles doch nicht gerechtfertigt war – in den Augen der »Guten« ist deine Schuld »immer zweifellos«, denn anders kann ihre Güte auch nicht ebenso zweifellos sein.
»Der Prozess« ist ein Romanfragment. Was uns vorliegt, endet damit (siehe zeno.org), dass der Angeklagte kurz vor seinem 31. Geburtstag abgeholt und in einem Steinbruch am Rande der Stadt hingerichtet wird.
Josef K. wird abgestochen, mit einem Messer, und seine letzten Worte sind: »Wie ein Hund!«
Ich glaube nicht, dass die deutschen Behörden irgendwen tatsächlich »abstechen« werden. (Die treiben bloß die Politik, die das Abgestochenwerden durch »junge Männer« wahrscheinlicher macht, doch das ist wieder ein anderes Thema.)
Wenn aber Josef K. heute plötzlich wach wird, und nicht weiß, wie ihm geschieht, dann kann es sein, dass einfach der Verfassungsschutz ihn schlechtgeredet hat.
Die begnügen sich damit, die Deutschen fortgesetzt in einem Zustand des Angeklagtseins zu halten.
Freunde, nicht alle von uns haben den Mut – oder die tiefen Taschen –, um jederzeit die Wahrheit zu sagen. Doch unsere Reaktion auf die Nachrichten des Tages muss auch nicht Mut sein. Wir sollten täglich klüger werden.
Natürlich sollten Sie und ich den Mitmenschen bewusst machen, was die Regierung da gerade tut. Aber bringen Sie sich nicht in Gefahr!
Weit sollen uns aber zumindest täglich klüger werden, zum Beispiel indem wir mal wieder Franz Kafka lesen, sei es in einem günstigen Buch oder ganz gratis online.
Ja, es ist schlimm, dabei zuzusehen, wie die Dinge so richtig ins Rutschen geraten. Das ändert aber nichts daran, dass jeder Tag nur einmal kommt.
Mal wieder Kafka
Die Seele braucht es, dass wir von Zeit zu Zeit das Telefon und vor allem die Nachrichten stummschalten, ein der Stimmung förderliches Getränk bereitstellen, und uns zum Lesen in unseren »Bau« zurückziehen, in den äußeren wie auch den inneren »Bau«.
Denn wie Kafka schreibt: »Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille.«
(Heute ignorieren wir mal die beiden direkt folgenden Sätze: »Freilich, sie ist trügerisch. Plötzlich einmal kann sie unterbrochen werden und alles ist zu Ende.« – Denn darauf wiederum folgt: »Vorläufig aber ist sie noch da.«)