Dushan-Wegner

10.01.2022

Ich beharre: Vergebt!

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Zoltan Tasi
Vergebung ist kein Gefallen, den man dem Schuldigen zukommen lässt. Vergeben ist zuerst ein Akt der eigenen Seelenhygiene. Wir vergeben, um selbst zur Ruhe zu kommen. – Werden wir aber stark genug sein, all das zu vergeben, was heute geschieht?
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Letztens schrieb ich den Text »Vergeben, Vergessen, Vorsicht«, und einige von Ihnen, liebe Leser, widersprachen mir.

»Nein«, sagten Sie/sie, »das kann und darf man nicht vergeben, was heute an Hass und Schikane gegen Abweichler aufgefahren wird. Ich werde der Politik ihre Lügen und ihre bösen Taten nicht vergeben. Die Aufhebung meiner Grundrechte darf nicht vergeben werden und die Eingriffe in meine Unversehrtheit noch weniger.«

Und weiter: »Ich werde weder dem Nachbarn noch dem Kollegen vergeben, dass sie sich zum Werkzeug jener Leute machen ließen. Ich will weder vergeben noch vergessen, wie sie mich degradierten, wie sie mich abservierten, wie sie mir gegenüber kalt wurden. Ich kann und darf und will es nicht vergessen, wie also sollte ich denen deren Taten vergeben?«

Kartoffel oder Zirkuselefant?

Ja, liebe Leser, ich kann jeden verstehen, der so denkt, oder, präziser: der so fühlt, denn es ist ja mehr ein Fühlen als ein Denken.

»Ich kann nicht vergeben«, so sagt mancher, »ich kann diesem oder jenem nicht vergeben, denn seine Schuld wiegt zu schwer.«

Ich antworte heute dem Ankläger, indem ich zurückfrage: »Sage mir doch schnell, was ist diese Schuld, von der du redest? Wo wird sie aufbewahrt? Wird ihre Größe in Zentimetern gemessen, oder besser in Metern, in Kilometern oder gar in Lichtjahren? Wie viel wiegt sie, diese Schuld, in Kilogramm oder in Tonnen, und ich meine nicht metaphorisch oder bildlich gesprochen, die ›schwer wiegende Schuld‹, sondern tatsächlich auf einer physikalischen Waage gewogen, neben Kohle, Kartoffeln und Zirkuselefanten?«

Der Gefragte, der nicht vergeben kann, ist halb verdutzt und halb verärgert, und ich frage weiter: »Du sagst, du könntest nicht vergeben. Ich frage dich, was ist diese Vergebung, die du zu leisten außerstande bist?«

Spätestens an diesem Punkt entzieht sich der Nichtvergebende meinen lästigen Fragen. Er erweitert seinen Weltzorn auf mich, und auch das ist verständlich. Durch mein Insistieren habe ich doch seinem schlechten Grundgefühl, das ein Nichtvergebenkönnen ja stets mit sich bringt, eine weitere Bitterkeit hinzugefügt, nämlich die Unsicherheit bezüglich seines nun nicht mehr zu leugnenden Unwissens über die Grundlage seines Nichtvergebenkönnens.

Auch magisch!

Schuld und Vergebung sind beides magische Begriffe (und dass die Juristerei sich ihrer bedient, sagt etwas über die Advokaten aus).

Weder Schuld noch Vergebung lassen sich »greifen«. Es sind ausgedachte Konzepte, die dadurch existieren, dass wir an sie glauben, dass wir ihre Wirkung fühlen, dass wir die von ihnen implizierten Regeln befolgen. Es ist kein Zufall, dass man moralische Schuld gern in Geld umrechnet (Ablass, Bußgelder, Strafsteuer, Entschädigung, und so weiter) – Geld ist ebenso eine »ausgedachte« Entität, die nur durch Übereinkunft existiert und doch kaum wirkmächtiger sein könnte.

Jedoch, Schuld und Vergebung sind nicht nur ausgedacht, sondern auch magisch: Ähnlich wie Staaten und wohl auch manche Banken einfach »Geld drucken« können, sprich: allein durch die Kraft ihres Beschlusses neues Geld »magisch« entstehen lassen, so kann auch der Mensch durch seinen eigenen Beschluss einfach so Vergebung wie auch Schuld entstehen lassen.

Ob aber Schuld oder Vergebung über deine eigenen Gedanken hinaus existieren, das hängt (wie auch das Geld) davon ab, ob die Anderen an die »magische« Existenz dieser metaphysischen Entitäten glauben.

Begrenzte Gültigkeit

Einem Menschen »nicht zu vergeben«, das bedeutet, ihm eine moralische Schuld anzulasten – und sich zu weigern, ihn von dieser Schuld zu entlasten.

Das klitzekleine Problemchen moralisch-metaphysischer Schuld ist, dass sie zuerst nur im Kopf des Anklägers existiert.

Anders als bei juristisch relevanter Schuld wird moralische Schuld ja nicht von Staat und Behörden durchgesetzt, und der angebliche »Schuldner« wird die ihm zugeschriebene Schuld oft genug gar nicht erst akzeptieren – und damit existiert die Schuld für ihn nicht.

Nicht zu vergeben bedeutet, ein Schuldbuch zu führen, dessen Gültigkeit man nur selbst anerkennt.

Selbst wenn er wollte

Es bleibt erstens dabei: Alles, was uns in tiefster Seele bewegt, wurde uns von der Evolution eingepflanzt, weil es für den Erhalt der Art zwingend notwendig war. Das Konzept von Schuld und nur langsamer Vergebung war notwendig für die Regulierung des Lebens im Stamm.

Es bleibt jedoch auch zweitens dabei: Wir sind als Jäger und Sammler geschaffen, und wir versuchen, in einer modernen, technologisch hoch entwickelten, von Konsum und Propaganda durchtränkten Stadtwelt zu überleben, im Zeitalter globaler Medien und ebensolcher Mobilität, und einige angeborenen Instinkte schaden bei dem allen mehr als sie helfen – während andere lebenswichtige »Kulturtechniken« uns fehlen und dringend erlernt werden müssen.

Einem Menschen lange Zeit nicht zu vergeben, wenn er mir im selben Stamm und Moralkontext bewusst etwas Böses antat, das ergibt gewissen Sinn. Einem Menschen nicht zu vergeben, und also seine Schuld in mir herumzutragen, das ergibt vielleicht weniger Sinn, wenn der andere von Propaganda gehirngewaschen wurde, wenn sein Denksystem ein grundsätzlich anderes ist als meines, wenn seine Handlungen nicht rückgängig zu machen sind, oder wenn er gar nicht verstehen kann, was das für eine »Schuld« sein soll, die ich ihm zuschreibe, und daher auch nicht wirklich gehaltvoll um Vergebung bitten könnte, selbst wenn er wollte.

Was auch sonst?

Nicht vergeben zu wollen, so habe ich gehört, das ist wie Gift zu trinken in der Hoffnung, dass der andere dran stirbt.

Und weiter hörte ich: Nicht zu vergeben bedeutet auch, den Schuldigen mietfrei in deiner Seele wohnen zu lassen.

Man könnte formulieren: Einem Menschen seine moralische Schuld zu vergeben, das ist ein guter Akt an dir selbst. Einem Menschen zu vergeben, das entlastet nicht ihn, sondern dich.

Wenn du einem Menschen vergibst, was er dir antat, veränderst du dein Leben weit mehr als seines.

Die Vergangenheit ist vergangen, sie ist nicht einmal mehr Möglichkeit, sie ist höchstens Information (siehe dazu auch den Essay vom 9.1.2022). Alle Aufrechnung und Gegenrechnung angehäufter Schuld und geleisteter Sühne werden die Vergangenheit selbst nicht verändern.

Ich verstehe sehr gut, wenn Menschen fühlen, dass sie »nicht vergeben können«. Eine moralische Schuld zählt aber oft genug zu jener Art von Schuld, an welcher der Gläubiger noch schwerer trägt als der Schuldige.

Ich wünsche mir, und ich wünsche es einem jeden von uns, dass wir zu vergeben lernen, bald und dann immer wieder.

Ich bin kein Advokat der Schuldigen. Ich spreche hier auch nur noch eher müde für die Gesellschaft, wenn diese auch ganz ohne Vergebung zum brodelnden Giftkessel würde. Es geht um uns selbst, es geht um unseren eigenen inneren Frieden – um was auch sonst?

Heimlich und bescheiden

Zu vergeben, das ist ein magischer Akt, der bereits mit dem Aussprechen der Worte »ich vergebe« eingeleitet wird. Der, dem wir vergeben, er muss nicht anwesend sein, es ist im Zweifel sogar hilfreich, wenn er nicht anwesend ist, wenn er nicht einmal von unserer Anklage weiß – nicht dass unser Vergeben selbst wieder wie eine Anklage gilt, ein aggressiver Akt, den zu vergeben an ihm wäre, ein endloser Zirkel der Schuld. Erst wer still zu vergeben lernt, kann aus dem ewigen Kreis von Schuld und Vorwurf ausbrechen.

Nein, wir wollen und sollten auch nicht vergessen, was Menschen uns antun können, wenn höhere Autoritäten es ihnen anordnen. Verantwortungsvolle Vorsicht setzt ehrliche Erinnerung voraus. Wer Verantwortung trägt, der will und muss vorsichtig bleiben.

Ich selbst will aber, und ich lade uns ein, immer wieder neu die Kunst der Vergebung zu lernen.

Ich will lernen, heimlich und bescheiden zu vergeben – das ist mir meine Seelenruhe wert.

Weiterschreiben, Wegner!

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