Dushan-Wegner

12.07.2021

»Wir sind die Herde!«

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Kristine Cinate
Kinder sollen geimpft werden, zum Zweck der »Herdenimmunität«. Aha. Es ist spannend, wie locker heute von der »Herde« gesprochen wird. (Freche Frage: Sollte man Kindern auch dann das mRNA-Zeug injizieren, wenn von »Volksimmunität« die Rede wäre?)
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»Auch in einer individualisierten Welt wird der kluge Leithammel gelegentlich »zur Herde als Herde« sprechen. Wir Einzelmenschen könnten Widerworte geben und eine eigene, mehr oder weniger durchdachte Meinung haben. Aber jemand, der sich als Mitglied einer Gruppe sieht, wird sich in seine von der Gruppe zugedachte Rolle fügen. Wenn ausreichend viele aus der Herde dem Leithammel folgen, weil die Herde es nun mal tut, folgt eben die ganze Herde dem Leithammel und bestätigt so den Leithammel in seiner Rolle.« – Ich zitiere hier mich selbst, nämlich die Regel zum Effekt: »Mit der Herde sprechen« aus meinen Buch »Talking Points«.

Mein 2015 geschriebenes Buch beschreibt tatsächlich eingesetzte »Sprachtricks« (teils vor buchstäblich Tausenden von Jahren). Ob jemand meine Erklärungen als Anleitung nutzt (es wurde getan – erfolgreich), das bleibt ihm selbst überlassen. Einige Leser fragten mich halb im Scherz, ob Trump es wohl gelesen habe, so präzise würde er ein Jahr später einige der beschriebenen Effekte im Wahlkampf einsetzen. (Nein, ich beschreibe und arbeite heraus, was funktioniert, ich habe es aber gewiss nicht erfunden.)

Einer der in Talking Points notierten Effekte scheint in diesen Tagen und Monaten in Deutschland extra laut in Mode zu kommen, und zwar wörtlich. Es ist der Effekt, der das provokante Wort »Herde« enthält.

Der erfolgreiche Politiker spricht mit der Herde als Herde (das entsprechende Kapitel erklärt es im Detail, mit Beispiel) – und beim Stichwort »Herde« wären wir bei den Meldungen des Tages!

Die Immunität

Wir hören und lesen aktuell immer wieder von einer »Herdenimmunität«. Wenn eine ganze Herde immun gegen eine Krankheit ist, so die Theorie hinter der These, dann können auch arg ansteckende Krankheiten sich nicht in dieser Herde ausbreiten. Den Deutschen wird ihre Verantwortung für die Herde eingebläut.

Einerseits wäre da der zunehmend karikaturhaft auftretende Karl Lauterbach, der mit einer »Herdenimmunität« in Deutschland bis Mitte September rechnet (fr.de, 29.6.2021), wenn alle nur brav Maske tragen und ihren Kindern eine mRNA-Injektion verpassen lassen. Andererseits wäre da ein Hendrick Streeck, der uns empfiehlt, dass wir uns »vom Gedanken der Herdenimmunität verabschieden (Video auf welt.de, 9.7.2021 (€)).

Was soll man tun? Was soll man glauben? Und überhaupt, warum soll man denn auch Kinder »impfen«?

Studie um Studie scheint zu belegen, dass das Covid-Risiko für Kinder »extrem niedrig« ist. Die angesiedelte BBC, gewiss keine »contrarians« (Leute, die aus Prinzip gegen die Mehrheitsmeinung sind), titelte vor drei Tagen: »Covid: Children’s extremely low risk confirmed by study« (bbc.com, 9.7.2021), zu Deutsch etwa: »Covid: Extrem niedriges Risiko für Kinder durch Studie bestätigt«.

Eine ehrliche Antwort finden wir etwa bei aerzteblatt.de, 6.7.2021: Die neue Delta-Variante des Virus sei »deutlich ansteckender«, und deshalb gehe man davon aus, »dass eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 ohne die Impfung von Kindern und Jugendlichen nicht erreichbar ist.«

Im Essay »Man zeige mir den Opa« vom 30.5.2021 arbeite ich heraus, was uns daran das ethische Bauchweh bereitet: »Man zeige uns doch den Opa oder die Oma, die wirklich verlangen, dass ihren Enkeln dieser mRNA-Impfstoff injiziert wird, dass also die Kinder alle Nebenwirkungen und potentiell lebenslangen Risiken auf sich nehmen, allein ›um die Alten zu schützen‹.«

Da wäre also die Thematik mit der Injektion eines neuartigen Stoffes ohne Langzeitstudien zur Reprogrammierung von Kinderzellen, um Erwachsene (und die Wirtschaft) zu schützen. Eine weitere Angelegenheit aber, ein (nicht nur) sprachliches Detail lässt mich jedes Mal, wenn ich es höre, mit den Zähnen knirschen: Gerade in Deutschland, wo man sonst mit einer in Fanatismus übergehenden Pedanterie jedes Wort auf die feinste Goldwaage politischer Überkorrektheit legt, ist es doch erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit das Wort »Herde« im Bezug auf das Menschenkollektiv verwendet wird.

Das Nützliche

»Die ›Herdenimmunität‹ ist nur ein Fachbegriff«, so könnte man beruhigen – doch es wäre eine Nicht-Erklärung von der Art, die ich sie im Talking-Points-Kapitel »Effekt: Kompetenz« seziere (klingt kompetent, erklärt aber bei genauerem Hinsehen so gut wie nichts).

Dass die »Herde« in »Herdenimmunität« dort durchaus einen eigenen Inhalt transportiert, erkennen wir, wenn wir das hier praktisch ähnliche Wort »Volk« einsetzen: »Volksimmunität«. Ja, das klingt anders.

Man will Kinder für die »Herdenimmunität« mit mRNA-Therapie impfen. Sollte man Kinder auch für die »Volksimmunität« impfen? Für die »Volksgesundheit« gar? Sie können ja, liebe Leser, zur Abendunterhaltung einmal durchprobieren, was sich ergibt, wenn man in diversen Begriffen wechselweise »Herde« und »Volk« austauscht. Wäre »Herdenwagen« eine attraktive Automarke? Worin unterscheiden sich »Volksmentalität« und »Herdenmentalität«?

Was ist denn hier der Unterschied zwischen »Herde« und »Volk«? Warum tun sich Politiker heute mit »Herde« so einfach und mit »Volk« so schwer? Für einen Herrn Habeck etwa gibt es überhaupt kein Volk mehr, so schreibt er (sueddeutsche.de, 8.5.2018). Da es kein Volk gibt, so der linksgrüne Philosoph, kann es logischerweise auch keine »Volksverräter« geben. (Vertun wir uns nicht: Das ist wahrscheinlich die Denkweise vieler Politiker und wohl auch Journalisten in Berlin. Habeck wirkt lediglich so naiv und zugleich wortstark genug, diese typisch linksgrüne Verachtung auch zu verschriftlichen. Eine Baerbock hätte es irgendwoher kopieren (lassen) müssen, und solch offene Verachtung für das Volk ist sogar für den linksgrünen »Mainstream« ungewöhnlich.)

Man könnte mit der NS-Zeit argumentieren, wo »Volk« als Wort wie auch als Begriff missbraucht wurde. Das allein ist es aber nicht. Urteile werden noch immer angeblich »Im Namen des Volkes« gesprochen. Politiker sprechen ihren juristisch wertlosen (weil nicht einklagbaren) Eid, dem Wohl des Volkes zu dienen.

»Herde«, das lässt uns an Schafe denken, die sich brav ins Wahllokal führen lassen, und dort wählen, was sie wählen sollen. »Herde«, das klingt nach Gehorsam.

»Herde« ist ja ebenfalls kein geschichtsloses Wort! – Wir denken etwa an die Weiße Rose, an deren erstes Flugblatt, die dem »tragischen Volke« der Deutschen vorwarf, es habe den Anschein, als sei dieses Volk »eine seichte, willenlose Herde von Mitläufern, denen das Mark aus dem Innersten gesogen und die nun ihres Kerns beraubt, bereit sind, sich in den Untergang hetzen zu lassen.« (Siehe weisse-rose-stiftung.de; es ist jener berühmte Text, der mit diesen harten Worten beginnt: »Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ›regieren‹ zu lassen.«)

Ein in vielen Variationen im Internet verbreiteter Cartoon zeigt ein Schaf, das zu seinen Mitschafen sagt: »Ich sage euch, der Mann und der Hund arbeiten definitiv zusammen!«, woraufhin die übrigen Schafe ihm antworten: »Ach, geh! Du mit deinen Verschwörungstheorien immer!«

Die Herde, das ist das Nützliche. Schafe werden geboren, um nützlich zu sein. Der Hund steuert die Schafe, und schützt sie im Auftrag des Schäfers – damit und solange sie nützlich sind. Manche werden noch als Lämmer geschlachtet, weil ihr Fleisch dann noch lecker schmeckt. Manche dürfen länger leben, wenn sie Wolle und Milch geben.

Auf dem Reichstag steht »Dem deutschen Volk«. »Der deutschen Herde« könnte nicht darauf stehen, denn die Herde ist nicht der Zweck, sondern das Mittel für die Zwecke anderer.

Früher bedeuteten »volc« und »folc« auch »Kriegsschar«. Ein Volk ist eine Gruppe von Menschen, deren Gemeinsamkeiten so tief sind, dass sie bereit sind, für eben diese Gemeinschaft zu kämpfen.

(In diesem Kontext: Nein, »Staatsvolk« ist keine Alternative zu »Volk«, und gewiss keine Weiterentwicklung. Es ist ein seelenloser Begriff aus Bürokratie und Juristerei. Wie es praktisch aussieht, wie kalt und erbärmlich es ist, wenn es kein Volk mehr geben soll, nur noch Verwaltete, das erlebten wir aufs Peinlichste dieser Tage, als deutsche Soldaten aus Afghanistan zurückkehrten und von der Regierung »still« empfangen wurden; vergleiche etwa welt.de, 1.7.2021. Die Soldaten zogen aus, um die Freiheit des deutschen Volkes, ja, »auch am Hindukusch« zu verteidigen. 59 von ihnen starben. Und als die Überlebenden zurückkehrten, stellten sie fest, dass kein »Volk« sie zurück begrüßt. Da war nur ein »Staatsvolk«, und das hat keine Emotionen und nur wenig Anstand, es ist ja nur eine Verwaltungseinheit.)

Ein Volk, das ist keine Herde, und es darf sich nicht zur Herde machen lassen. Ein Volk ist sich sein eigener Zweck. Ein Volk, das ist eine Gruppe von Menschen, die etwas gemeinsam haben, das sie verteidigen wollen.

Ich verstehe, wenn Politiker in ihrem kalten Zynismus den Begriff der »Herde« sympathisch finden, und den Begriff des Volkes am liebsten verbieten lassen würden. Es sind Völker, nicht Herden, die sich gegen Tyrannen und böse Regime erheben. Es sollte doch das Volk sein, das sich »Volksvertreter« wählt – die Herde hat keine Vertreter, sie hat nur Aufpasser und Profiteure. In Leipzig wurde »Wir sind das Volk« gerufen, nicht: »Wir sind die Herde!«

Nicht das erste Mal

Als ich im Buch vom Effekt schrieb, zu der Herde als Herde zu sprechen, wollte ich eine reale rhetorische Technik beschreiben, und zugleich durch die Wahl des Sprachbildes »Herde« ein klein wenig provokant sein.

Ich wollte den Leser ja auch warnen, sich nicht zur Herde machen zu lassen – es wäre nicht das erste Mal, dass meine Übertreibung zur neuen Realität wird. Vom »Volk« zu reden, das gilt heute als böse, man redet heute von »Herde«. Was aber soll man unserm Volk, das es zum Herdesein drängt, noch raten?

Mein Rat gilt heute immer mehr dem Einzelnen, beginnend mit mir selbst. Was sollte man auch diesem Volk in seiner Gesamtheit empfehlen? Was sagt man »den Menschen«? Dass sie doch nicht immerzu Leute an die Macht wählen sollen, die ihnen das Fell über die Ohren ziehen? Wenn sie andere Leute wählen würden, dann käme doch der Kettenhund Staatsfunk, und der würde schlimm doll laut »Moral!« bellen, und dann bekäme die Herde es mit der Angst. Die Herde ist nicht mutig, deshalb mögen Politiker die Herde so viel lieber als so ein aufmüpfiges, störrisches Volk.

Mein Rat gilt immer mehr dem Einzelnen, und dieser Rat ist heute eine Frage mit Prämissen: Ein Volk ist eine Gruppe von Menschen, das etwas hat, wofür es sich zu kämpfen lohnt, das weit größer, tiefer und wichtiger ist als die Egoismen und Befindlichkeiten des Augenblicks. Du magst heute traurig darüber sein, dass dein Volk kein Volk mehr sein darf, doch hält dein eigenes Leben jener Frage stand, die aus einem Volk erst ein Volk macht?

Wenn du selbst nichts hast, wofür du kämpfen willst, was du schützen und bewahren willst, dann wird auch ein ganzes Volk dir wenig geben können.

Finde du, was dir so wichtig ist, dass du es mit einschließt, wenn du »ich« sagst. Und dann kämpfe dafür, schütze und bewahre es.

Vor allem aber: Folge nicht blind der Herde, denn (frei nach Goethe) manche ihrer Schäfer sind selbst Schafe!

Weiterschreiben, Wegner!

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