Dushan-Wegner

18.10.2023

Deutschland ohne (das) Deutsche

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Bild: »Schön, nicht?«
Einige Jahre noch, dann ist es mit Deutschland vorbei. Wir können nur noch »das Deutsche« retten. Unsere Sprache. Unsere Kultur. Unsere Art zu denken und zu fühlen. Das Deutsche zu retten aber, indem man es bewusst lebt, das ist eine ganz eigene Freude!
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Ich habe versucht, die Kinder für Musil zu begeistern. Es gelang nicht. Aber sie werden sich daran erinnern und es eines Tages auf eigene Faust versuchen, da bin ich mir sicher.

Die wollen lieber Kishon hören, auf Deutsch – und Leo liest ihn heute zum Einschlafen selbst, freiwillig! Goethe mögen sie auch, da lernten sie sogar den Prometheus auswendig. Manchmal las ich aus der Luther-Bibel vor, doch da musste ich bisweilen, äh, ad hoc redigieren. Wer weiß, der weiß. Und den Kafka, den mögen sie gar nicht, der ist ihnen zu gruselig.

Dafür lese ich Musil heute eben dem Hund vor. Wenn ich ihm dabei den Bauch kraule, erträgt er es. (Ich habe auch versucht, ihm T. S. Eliot vorzulesen, auf Englisch, doch Musil mochte er eindeutig lieber. Könnte am Schäferhund-Anteil der Promenadenmischung liegen.)

Eben das Deutsche

Der Wirt meiner (neuen) Lieblingskneipe ist Kölner. Meine Orga ist in der Hand von Deutschen. Ich quatsche jeden Tag mit Menschen, oft Deutschen. Mit Lehrern, Künstlern, Arbeitern, Verkäufern, Unternehmern, Freiberuflern.

Ich treffe natürlich auch Bekannte anderer Provenienz, Spanier und Engländer etwa, Italiener auch, und den gelegentlichen Franzosen. Wunderbare, liebe Leute! Ich freue mich jedes Mal neu auf die Zeit mit ihnen und möchte sie nicht missen. Wir geben unser Bestes, einander verständlich zu sein. Zur Not aber rutschen wir in die wahre Weltsprache: schlechtes Englisch.

Doch Sprache ist nicht nur Worte und Grammatik: Die Sprache, die wir »Muttersprache« nennen, ist auch ein Zuhause. (Ein Dichter könnte dichten: Die Muttersprache ist die Sprache, die deine Mutter mit dir sprach, während dein Vater fürs Vaterland kämpfte. Oder zumindest malochte und Steuern zahlte. Im Polnischen heißt es übrigens »Vatersprache«, woraus wir schließen, dass da die Söhne einst mit den Vätern in den Krieg zogen.)

Jeder Mensch hat nur die eine Sprache, die seinen Gedanken ein Zuhause sein kann. Und das ist für mich eben das Deutsche – ob in Deutschland gesprochen oder ganz anderswo.

Logisch, aber gefährlich

Wenn ein Verkäufer in eine Verhandlung geht, ein Student vor einer Prüfung steht oder ein Patient eine Behandlung beginnt, dann empfiehlt sich ihnen, davon auszugehen, dass ihr Vorhaben gelingen wird. Philosophen nennen das die »pragmatische Rechtfertigung der Wahrheit«.

Im Volksmund kennen wir ja auch »selbsterfüllende Prophezeiung«, wenn wir sie auch in der Praxis öfter auf Negatives verwenden.

Wir wissen aus Erfahrung, dass die geistige Haltung zu einer Unternehmung oft deren Erfolg beeinflusst. Wer wollte das bestreiten?

Aus dieser generellen Regel aber leiten wir bisweilen eine moralische Pflicht ab, die uns den Blick für die Realität trüben und uns in Lebensgefahr bringen könnte.

Die Logik: Wenn es den Erfolg einer Unternehmung positiv beeinflusst, vom wahrscheinlichen (oder zumindest möglichen) Gelingen auszugehen, dann ist es moralisch böse, am sicheren Erfolg zu zweifeln.

Logikproblem

Das Problem des Pflicht-Optimismus ist, dass er die Fälle ignoriert, in denen eine Unternehmung zum Scheitern verurteilt, aber die Mannschaft »moralisch« gezwungen ist, so zu tun, als sei der Erfolg möglich.

Das prototypische Beispiel des tödlichen Pflicht-Optimismus ist der Untergang der Titanic. Man hielt das Schiff für unsinkbar, also galt es als unmoralisch, auf mögliche Probleme, fehlerhafte Sicherheitsprotokolle und drohende Eisberge hinzuweisen.

In Deutschland hat sich, so fürchte ich, ein Pflicht-Optimismus etabliert, und zwar auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Linke Kaputtmacher (wie Merkel oder die aktuelle Regierung) gehen davon aus, dass wenn wir nur fest daran glauben und uns ein wenig anstrengen, die Sonne auch nachts in die Solarpaneele scheint, um bei Flaute die Windräder anzutreiben, die dann allen Leuten die elektrischen Autos aufladen … oder so.

(Manche) rechte Bewahrer aber gehen davon aus, dass wenn wir nur fest daran glauben und uns ernsthaft anstrengen, wir die von linksgrünem Wahn angerichteten Schäden rückgängig machen und unser alt-neues Deutschland zurückhaben können.

Beides, der linke Wahn wie auch die rechte Hoffnung, ist gelegentlich von der Mahnung begleitet, dass Zweifel und Widerspruch daran unmoralisch und zerstörerisch seien.

Wer im Rettungsdienst und Gesundheitswesen mit gewissen Kulturen zu tun hat, der weiß, dass die den Helfer, der eine schlechte Botschaft überbringt, für diese verantwortlich machen können und ihm Gewalt androhen. Ähnlich ist es mit Linken, die man auf die monströsen Fehler in ihrer Logik und angenommenen Faktenlage hinweist.

Doch auch die Bewahrer könnten in die Gefühlslage rutschen, widersprechende Meinungen aus »moralischen« Gründen abzulehnen, selbst wenn diese auf weit stabilerer Grundlage stehen als die eigenen Hoffnungen.

Die harmloseren Risiken des Pflicht-Optimismus bestehen darin, dass man Zeit und andere Ressourcen für Aussichtsloses verschwendet. Die ernsteren Risiken bestehen darin, dass man sich unnötig in Lebensgefahr begibt, siehe Titanic, oder dass man Leid und Zerstörung anrichtet bei dem Versuch, die unwillige Realität an die optimistische Ideologie anzupassen – siehe alle Sozialismen von Marx über Öko bis zu Wokeness.

Die Tasse

Eine Zen-Geschichte – ich will sie aus dem Gedächtnis erzählen – erzählt von einem Meister, der zu seinem Schüler sagt: »Siehst du diese Tasse dort stehen?«

»Ja«, bestätigt der Schüler.

»Was wird passieren«, fragt der Meister, »wenn die Tasse vom Tisch fällt?«

»Dann wird die Tasse zerbrechen«, antwortet der Schüler.

»In meinem Geist«, sagt der Meister, »ist die Tasse bereits zerbrochen.«

Jetzt aber

Ich habe bis hier drei Vorreden gehalten. Die erste Vorrede bestand aus einer zweiteiligen Liebeserklärung an das Deutsche. Die zweite Vorrede war eine zweiteilige Ausführung zur problematischen Logik des Pflicht-Optimismus. Die dritte Vorrede war eine launige Zen-Geschichte.

Ich könnte an dieser Stelle auf einige meiner Essays verweisen. Etwa »Der letzte Tag auf dem letzten Jahrmarkt« von 2018 (nach welchem ich auch eine Essay-Sammlung benannte). Oder »Die letzten Tage des Westens« von 2017.

Doch ich berufe mich auf einen aktuellen Video-Kommentar des Geopolitik-Experten Peter Zeihan. Sein Schwerpunkt ergänzt meinen, und widerspricht mir leider keineswegs.

Das YouTube-Video von Peter Zeihan heißt »The End of Germany as a Modern Economy« – also etwa: »Das Ende Deutschlands als moderner Wirtschaftsstaat«.

Zeihan listet mehrere Punkte auf, von denen jeder einzelne genügen würde, das Ende Deutschlands als Wirtschaftsstaat – und damit als unabhängiges, global relevantes Land – zu besiegeln.

Einer dieser Punkte ist die Abhängigkeit von diktatorischen Staaten wie China und Russland. Wenn sich die Prioritäten dieser Staaten ändern, steht man plötzlich sehr nackt da. Ebenso, wenn man als globaler Akteur Deutschland plötzlich die Moral entdeckt.

Ein weiterer von Zeihans Punkten ist die Macht der Grünen in der Politik. Es fällt (nicht nur) ausländischen Experten schwer, deutsche Energiepolitik ohne ungläubiges Lachen zu beschreiben. Ein Land, dessen Industrie extra intensiv von zuverlässigem und bezahlbarem Strom abhängig ist, steigt aus der sichersten und CO2-saubersten Energieform aus, um Atomstrom und Flüssiggas teuer im Ausland einzukaufen. »Erneuerbare« Energie ist ein mit Zahlentricksereien schöngerechnetes, Natur und Wirtschaft zerstörendes Hobby, kein energiepolitisches Rückgrat. (Übrigens: Eine Pipeline steht und kann Energie liefern, bis »jemand« sie sprengt. Flüssiggas auf Schiffen hingegen kann jederzeit umgeleitet werden.)

Und dann wäre da die Demographie. Die Deutschen, auf deren Rücken die aktuelle Wirtschaft noch lastet, sterben schlicht aus, ohne dass eine entsprechende Generation von Fachleuten nachwachsen würde.

Zeihans Punkte sind natürlich richtig – und tragischerweise unvollständig. Als hyper-rationaler in den USA lebender Analyst und Geostratege sieht Zeihan nicht die »weichen« Faktoren in Deutschland, welche dieselben Effekte verstärken.

»Intellectual Yet Idiot«

Im Gespräch mit deutschen Machern fühlt man sich bisweilen an den Begriff »Intellectual Yet Idiot« (via medium.com, 16.9.2016) von Nassim Nicholas Taleb erinnert. Man kann beruflich und finanziell sehr erfolgreich sein, und doch in politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Angelegenheiten schlicht blöde. Wie argumentiert man als denkender, aber bescheidener Mensch in einem Gespräch mit einem Trottel, dem zwar jede Weisheit und Weitsicht fehlen, der sich aber im System derart geschickt eingerichtet hat, dass er monatlich das Zehnfache kassiert und im selbstbewussten Luxus lebt?

Deutschland ist ein Land, in dem ein weiter Teil der Bevölkerung unablässig durch milliardenschwere Propaganda-Beschallung aktiv dumm gehalten wird. Gehen Sie mal den aktuellen Kanzler und sein Kabinett im Kopf durch! Ein Land, das diese Regierung nicht aus dem Amt lacht, kann nur so erklärt werden, dass weite Teile der Bevölkerung »einen an der Waffel« haben, wie finanziell erfolgreich und gesellschaftlich angesehen die Leute, die das zulassen, aktuell auch sein mögen.

Und an diesem Punkt haben wir noch nicht einmal von den Leuten gesprochen, die aufgrund der irrwitzigen deutschen Welteinladung nach Deutschland kommen, gern mal »Tod den Juden« brüllen und schon mal eine Synagoge anzünden wollen (welt.de, 18.10.2023).

Auch das ist linksgrüne »Logik«: Weil in Deutschland mal Synagogen angezündet wurden, muss man heute Leute ins Land lassen und vollversorgen, die hier Synagogen anzünden.

Das Deutsche, ohne Deutschland

Manche sagen, dass sie Deutschland schon heute nicht mehr wiedererkennen.

Wer den heutigen Zustand Deutschlands vor dreißig Jahren vorausgesagt hätte, wäre ausgelacht worden.

Es ist immer noch lächerlich, doch es ist die neue Realität.

Wer heute vorhersagt, dass es in dreißig Jahren kein Deutschland mehr geben wird, bekommt Antworten von zwei Seiten: von denjenigen, die ihn aufgrund der Faktenlage bestätigen und womöglich die Frist deutlich knapper einschätzen; und von denjenigen, die solche Voraussagen aus Gründen eines moralischen Pflicht-Optimismus ablehnen.

»Wird unsere Kraft reichen, den Weg zurückzugehen?«, fragte ich 2018.

Die Antwort ist: Nein.

Die Regierung des Kanzlers Erinnerungslücke hat keine Vollbremsung und 180-Grad-Wende vollzogen, sondern das Gaspedal durchgedrückt. Wenn es die Möglichkeit zu einer demokratischen Kehrtwende gäbe (und eine andere will ich mir nicht vorstellen), müssten die Deutschen kollektiv plötzlich sehr klug werden.

Der Verfall des demokratischen Rechtsstaates, der in der Corona-Panik sichtbar wurde, die suizidale Energiepolitik oder die irrsinnige Migrationspolitik – all das zu reparieren bräuchte sehr starke Nerven, sehr viel Klugheit, viel weiteres Geld, eine tiefe, stolze Identität und leider auch einiges an Zeit – nichts davon ist in Deutschland in ausreichender Menge vorhanden, nicht einmal annähernd.

Gelegentlich kritisiert man mich, ich solle für den Erhalt und die Rettung Deutschlands kämpfen. Ich sehe nicht, wie.

»Wir leben in geborgten Jahren«, schrieb ich im Essay »Die Gartenbesitzer«.

Ich »kämpfe« auch nicht für den Erhalt deutscher Kultur: Ich lebe diese Kultur, nach bestem Können, mit aller Kraft.

Ich habe in der Schule einst Latein gelernt, habe die Schriften und Ideen der Römer studiert. Später dann das Griechische und die Schriften der alten Griechen.

Das antike Rom gibt es nicht mehr, das antike Griechenland ebenfalls nicht. Und doch lernen wir von ihnen, zumindest an den guten Schulen, und wir lernen ihre Sprache, um ihre Gedanken zu verstehen.

Das Land Deutschland ist noch nicht vorbei, doch wir wissen, wie ein Zen-Meister das sehen würde.

Deutschland ist … ach was: Der Westen ist tot, lang lebe der Westen.

Ein Grund zum Aufstehen

Es ist vorbei, auch wenn es sich formal noch ein oder ein paar Jahrzehnte zieht. Nicht nur für den Zen-Meister ist es das »praktisch schon jetzt«.

In der Parabel von der zerbrechenden Tasse ist ja auch Trost. Die heile Tasse ist bereits zerbrochen, doch die zerbrochene ist im Geist des Meisters noch immer heile und ganz!

Lebt das Deutsche! Denkt das Deutsche! Erzählt euren Kindern davon!

Lest unsere Bücher, schreibt neue dazu, selbst wenn es sich nicht »rentiert«.

Freut euch, wie ich, an jedem guten Satz.

Ihr kennt gewiss den Spruch, einer sei nicht ganz tot, solange er in unserem Herzen »lebt«. So ähnlich halte ich es mit Deutschland.

Dieses »Leben« aber fällt mir nicht schwer, wie die über elftausend Zeichen dieses Textes sowie die bald 2000 weiteren Essays belegen. Es ist ein Genuss, eine Freude, ein Grund zum Aufstehen am Morgen!

Dass Sie mir aber bis hierhin folgten, bedeutet, dass wir uns verstehen, wo auch immer auf diesem blauen Staubkorn wir Deutschen, je nach Tageszeit, unseren Kaffee oder unser Bier trinken.

Weiterschreiben, Wegner!

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