Dushan-Wegner

31.10.2022

Grenzsoldaten des Sagbaren

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Czapp Botond
Es gibt Politiker, Journalisten und gewisse andere Leute, die bewachen mit Herzblut die »Grenzen des Sagbaren«. Sind das bildsprachlich dann die »Grenzsoldaten des Sagbaren«?
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Anne Gellinek ist Nachrichtenchefin des ZDF, und in ihrer Selbstbeschreibung auf Twitter gibt sie an – nach welchem Sinn von »angeben« auch immer – dass sie »immernoch Vielfalt statt Einfalt« »bewundert« (sic!, @a_gellinek, Stand 31.10.2022, 10:00 Uhr)

Was genau aber meint Frau Gellinek mit »Vielfalt«? Nun, deren Deutung könnte anders sein als Ihre oder meine.

Nun, die Zwangsgebührenzahler und ZDF-Gucker durften das letzten Freitag ganz direkt von ihr erfahren.

Im Heute-Journal des ZDF kommentierte Frau Gellinek die Übernahme (zdf.de, 28.10.2022, etwa ab 20. Minute). Sie zitierte Musk, der seinen Kauf in ihrer Übersetzung so begründete: »Ich tat es, um der Menschheit zu helfen, die ich liebe.«

Woran denkt Frau Gellinek, wenn sie ein Wort wie »Liebe« hört? Richtig. An das geliebte Lieblingswort der sogenannten »Guten«: an »Hass«.

Gellinek wörtlich: »Twitter ist allerdings ein Medium, das häufiger durch Hass als durch Liebe aufgefallen ist.«

»Und die Frage ist nun«, sagt die Dame vom ZDF weiter, »was der Exzentriker Musk nun mit der Plattform vorhat.«

Und weiter: »Die Befürchtung ist, dass er die Grenzen des Sagbaren weiter ausdehnen könnte.«

Wieder der Graben

Ungezählte Bürger merkten an, dass hier immerhin die Nachrichtenchefin des ZDF öffentlich zuzugeben schien, dass man fürchtet, dass Twitter weniger zensieren würde.

Die Vorstellung, dass Twitter nicht mehr zugunsten der immergleichen Strippenzieher wie etwa der sogenannten »Democrats« eingreift, wenn Twitter nicht mehr vor Wahlen für die »Democrats« ungünstige Nachrichten zensiert et cetera, dieses Szenario scheint der Dame vom ZDF schlimme Angst zu bereiten.

Ich suche ja seit Jahren, wie sich der »große Graben« in der Gesellschaft überwinden ließe. Doch in Fällen wie Frau Gellinek vom ZDF sehe ich wenig Möglichkeit: Ich fürchte eine Welt mit Zensur – Frau Gellinek scheint eine Welt ohne Zensur zu fürchten. Das ist unüberbrückbar – ich will nicht auf ihre Seite des Grabens hinüber, sie vermutlich nicht auf meine.

Man beachte dabei aber, wie feige sie formuliert! – »Die Befürchtung ist«, das klingt, als ob eine Befürchtung wie ein Fakt anonym im Raum schwebe. Im Amerikanischen könnte das unter »Weasel-Words« laufen, ein »Wiesel-Ausdruck«.

Wir kennen solche feigen Formulierungen von Sätzen wie »es wurden Fehler gemacht«.

Die ehrliche Form wäre »ich habe es xyz getan«, oder eben, als ehrlicherer Vorschlag vorformuliert: »Ich als ZDF-Gutverdienerin, fürchte die Meinungsvielfalt – egal, was in meiner Twitter-Selbstbeschreibung steht.«

Wessen Grenzen?

Vermutlich würde Frau Gellinek mir widersprechen, und sagen, sie sei für Vielfalt, aber gegen »Hass«. Zum Propagandawort »Hass« aber siehe weiterhin den Essay »Deine Meinung ist Hass, und Hass ist keine Meinung« von 2018. – Dass der Begriff »Hass« umgedeutet wird, hat mit ebendiesem »Sagbaren« zu tun.

Im Essay vom 13.02.2020 schreibe ich: »Ein Merkmal von Neusprech ist, neben der Einschränkung des Sagbaren (vergleiche heutige ›politische Korrektheit‹), die Neudefinition wichtiger Worte in das Gegenteil der üblichen Bedeutung.«

Im selben Essay beschrieb ich das hier vorliegende Phänomen. Ans 1984-Vorbild (»Krieg ist Frieden« usw.) angelehnt werden Wort und Phänomen »Hass« voneinander getrennt und beide umgedeutet: »Hass (auf Abweichler) ist Liebe. Liebe (zum Land) ist Hass.«

Sollten Leute wie Frau Gellinek tatsächlich die abweichende Meinung samt der sie aussprechenden Abweichler hassen, dann würde sie selbst es wohl Liebe nennen.

Sollten Abweichler aber eine von der Einheitsmeinung abweichende Meinung an den Tag legen, etwa ihr Land zu lieben und also schützen zu wollen, dann würden Leute wie Frau Gellinek dies vermutlich als Hass einordnen.

Anders zu fühlen als sie (und ihresgleichen), oder die Faktenlage anders zu bewerten als sie (und ihresgleichen), das steht schnell im Verdacht, »Hass« zu. sein. Jedoch: »Hass ist keine Meinung«, und fällt deshalb auch nicht unter »Vielfalt« und »Meinungsfreiheit« – und darf konsequenterweise nicht den schmalen Korridor des Sagbaren passieren.

Nicht zu Ende (gedacht)

Nicht dass wir uns missverstehen: Ich halte Musk nicht für einen Wohltäter, nicht für einen edlen Ritter. Auch er hat Interessen. Im Essay »Privatarmee im Meinungskrieg« vom 28.04.2022 stellte ich die These auf, dass Musk sich Twitter als seine »Meinungsarmee« kauft – und ich bleibe grundsätzlich bei dieser Einschätzung.

Dies widerspricht aber keinesfalls der Beobachtung, dass manche reichlich panisch wirkende Reaktion auf die mögliche Erweiterung der »Grenzen des Sagbaren« denkbar entlarvend ist.

Im Essay »Midas und die Weltzensur« vom 15.10.2022 beschrieb ich Bestrebungen aus dem geistigen Dunstkreis der Grünen, deutsche Zensur weltweit um- und durchzusetzen.

Ich weiß nicht, was erschreckender ist: Dass die Leute mit ihren »Befürchtungen« nicht ihre Ideen zu Ende gedacht haben, oder dass sie sie vielleicht doch zu Ende gedacht haben, und es genau so wollen.

Wenn Deutschland sich herausnimmt, weltweit seine täglich rigideren Vorgaben zur erlaubten Meinung durchzusetzen, dann muss es jedem anderen Staat auf der Welt erlauben, ebenfalls vorzugeben, was in Deutschland gesagt werden darf!

In einer »Nacht-und-Nebel-Aktion« hat der Bundestag es etwa jüngst potenziell strafbar gemacht, eine vom deutschen Tages-Mainstream abweichende Meinung zu einem Kriegsverbrechen zu vertreten (siehe Essay vom 27.10.2022).

Gar nicht notwendig

Die Aussagen der Frau Gellinek sind eigentlich im Inhalt lächerlich – doch da man davon ausgehen muss, dass sie der Politik nach dem Mund redet, und dass die Politik diesen widersprüchlichen und nicht zu Ende gedachten Widersinn in die politische Tat umsetzen will, spätestens dann wird es gefährlich.

Der Teil aber, dass man implizit hofft, tatsächlich die Welt (deren Teil ja Twitter ist) am moralischen Wesen genesen zu lassen, der ist amüsant. Deutschland wirkt von außen schon mal wie eine verrückte Tante, die irgendwoher Geld hat, zu der man aber nur so lange freundlich ist, wie sie ebendieses Geld austeilen kann.

Wir ahnen alle, dass ein Staat, der solche Geistesgrößen als Vordenker und intellektuelle Taktgeber hat, schlicht nicht stabil sein kann.

Als Parabel: Wenn es den Affen gelang, in einer unachtsamen Minute des Zoodirektors ebendiesen zu vertreiben, und an seiner Stelle den Zoo kontrollieren, dann wirst du eine kurze Zeit lang den Affen deinen Respekt erweisen. Doch du ahnst, dass die Lage nicht stabil ist, und also planst du für »danach« – und dazu gehört, dass du überlegst, welche Varianten dieses »Danach« einnehmen kann.

Eine These: Wenn in Deutschland die Staatsgrenzen nur halb so streng bewacht würden wie die »Grenzen des Sagbaren«, wäre ein guter Teil des »Kampfes gegen falsche Meinungen« gar nicht notwendig!

Ich vermute, dass erschreckend viele Staatsfunk-Gucker es aktiv begrüßen würden, wenn man die »Grenzen des Sagbaren« einen »antifaschistischen Schutzwall« nennen würde.

Wie soll man die Leute nennen, die – bezahlt oder gratis – Tag und Nacht die »Grenzen des Sagbaren« bewachen? Wir könnten ja, als Metapher, »Grenzsoldaten des Sagbaren« probieren. (Und einige derer, welche den »Grenzen des Sagbaren« heute als »Grenzsoldat« dienen, könnten sogar dasselbe Parteibuch (gehabt) haben wie jene, welche damals den »antifaschistischen Schutzwall« betrieben. Es wäre zu prüfen.)

Beim deutschen Staatsfunk fürchtet man offenbar, dass die »Grenzen des Sagbaren weiter ausgedehnt« würden. – Aber warum fürchtet man die Ausdehnung, Aufweichung oder gar Öffnung der »Grenzen des Sagbaren«?

Man fürchtet die Öffnung der »Grenzen des Sagbaren« womöglich, weil man richtig vorhersagt, dass – bildlich gesprochen – erschreckend viele Leute eine »Republikflucht« begehen würden, sprich: eine »falsche Meinung« aussprechen könnten.

Der Vogel soll fliegen dürfen

»Mr. Gorbachev, tear down this wall!«, so rief Reagan im Jahr 1987 (siehe Wikipedia). Schabowski fand das »absurd«. Die sowjetische Nachrichtenagentur bewertet es als »kriegstreibend«.

Gorbatschow sollte dann auch für »Perestroika« und »Glasnost« stehen, für Veränderung, für Öffnung und für Lockerung.

»The bird is freed«, verkündete Elon Musk nach seiner Übernahme (@elonmusk, 28.10.2022 (a)), und: »comedy is now legal on Twitter« (@elonmusk, 28.10.2022 (b)). Frei übersetzt: »Der Vogel darf jetzt fliegen«, und »Humor ist jetzt legal auf Twitter«.

In Berlin (und Brüssel) aber entwickelt man nun »Befürchtungen«, dass die Menschen etwas zu viel von ihrer Freiheit ausleben könnten. Beide ermahnen Musk, dass man es in Europa etwas enger mit der »Meinungsfreiheit« auslege.

Bei einer Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises sagte Gorbatschow 1990 übrigens: »Je mehr ich über die aktuellen Entwicklungen in der Welt nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die Welt die Perestroika nicht weniger braucht als die Sowjetunion.« (via nobelprize.org, aus dem Englischen)

»Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss«, so mahnt Goethe im Faust, und natürlich ist es wahr.

Freiheit muss erobert und verteidigt werden, gegen die, welche sich als die »Grenzsoldaten des Sagbaren« gebären.

Meinungsfreiheit ist denen ein Anlass zur »Befürchtung«. Für uns beginnt Freiheit mit Meinungsfreiheit, und wir müssen sie erobern, täglich und mutig – immer noch.

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