13.04.2020

Im Fass auf die Niagara-Fälle zu

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Foto von Billy Huynh
Ostern alles zumachen, Ramadan wieder öffnen, und Weihnachten dann wieder zumachen (so spart man sich auch das Merkel-Lego um die Weihnachtsmärkte und die Hochsicherheits-Zonen zu Silvester). – Läuft!
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Zwei Arten von Ratgebern sollten wir misstrauen. Die einen sind die Theoretiker. Die anderen sind die Praktiker. (Und die Leute, die allen Ratgebern misstrauen, die sind auch nur mit Vorsicht anzuhören!)

Theoretiker (bzw. Theoretikerinnen) sind im Grund wenig mehr als schwätzende Waschweiber (bzw. Waschweiberinnen), nur dass ihre Worte mehr Silben aufweisen. Theoretiker reden von Dingen, die sie mal gehört haben, die sie sich so zusammendenken.

Die anderen aber, vor denen man sich hüten sollte, das sind die Praktiker! Ein Sarkast (weiß jemand, wer?) hat einmal die Autoren von »praktischen« Ratgeberbücher verglichen mit Leuten, die sich im Holzfass die Niagara-Fälle hinabstürzen, und ich will es so nacherzählen: Sechzehn Leute stürzen sich im Fass die Niagarafälle hinab, acht davon überleben zufällig, und die stürzen sich wieder hinab, davon überleben vier, wieder zufällig, und dann stürzen sich diese vier wieder im Fass die gefährlichen Wasserfälle hinunter, die zwei zufällig Überlebenden stürzen sich ein weiteres Mal hinunter, und der eine, der nach einer Laune des Wasserfalls übrig bleibt, der beschließt, wegen Rückenschmerzen und wegen des steigenden Preises von Holzfässern und so weiter, er beschließt, nicht mehr in diese Fässer zu steigen und sich persönlich die Wasserfälle hinunter zu stürzen, sondern lieber Bücher darüber zu schreiben und Vorträge zu halten, wie man in Holzfässern die Niagarafälle hinabstürzt – er gilt damit als »Praktiker« und als »Experte« – was aber unterscheidet ihn von all den anderen? Er wird sagen: praktische und erfolgreiche Expertise! Scharfe Zungen werden sagen: Zufall und Glück.

Wir fassen zusammen: Theoretiker sagen Dinge, deren Bedeutung sie nicht verstehen – Praktiker hatten Erfolg in einem bestimmten Szenario, doch sie könnten allzu optimistisch darin sein, auf wie viele und welche andere Szenarien sich ihre Erfahrung übertragen lässt.

Und deshalb, liebe Freunde der Weisheit, misstraut den Theoretikern – und den Praktikern misstraut nicht minder!

(Dem Essayisten klang an dieser Stelle ein Chor entgegen: Was und wem sollen wir denn dann vertrauen?)

Das Tier für einen Pinsel

Eine Debatte und eine Kakophonie sind zwei unterschiedliche Dinge.

Wir hören heute sehr viele unterschiedliche Meinungen zur Lage, und viele von uns (inklusive mir, klar!), äußern ihre Sicht auf das eine große Thema.

Eine Vielfalt von Stimmen ist dann eine Debatte, wenn Menschen versuchen, nicht nur ihre Meinung einzubringen, sondern auch die anderen Meinungen ernst zu nehmen – und dann gemeinsam zu klügeren Schlüssen zu gelangen.

Wenn aber alle in den Raum hineinbrüllen (Staatsfunk und Gleischrittmedien mit extra lautem Lautsprecher), dann ist das Lärm und Kakophonie, nicht Debatte – und bestimmt werden wir dadurch nicht klüger.

Beispiel: In den letzten Tagen haben wir etwas von der »Heinsberg-Studie« gehört, und es war keine »Debatte«, sondern mehr ein Gelehrten-Gezänk, ob und wann man die Ergebnisse hätte öffentlich vorstellen können (siehe etwa welt.de, 12.4.2020). Ich habe wenig gelernt, außer vielleicht dass wohl auch Experten eitel und in politische Interessenslagen eingebunden sein können, doch wussten wir das nicht bereits?

Ärzte »an der Front« und Pharmaunternehmen prüfen, ob und inwieweit sich eventuell schon existierende Medikamente gegen das Virus und seine Auswirkungen einsetzen ließen (siehe etwa vfa.de, 9.4.2020). Berichte von Erfolgen mit Hydroxychloroquin (siehe Wikipedia) etwa schüren Hoffnung (siehe z.B. nypost.com, 4.4.2020).

Schweden sieht Erfolge durch seinen »Sonderweg«, doch wie weit (und wie lange ggf. noch?) sind schwedische Erfahrungen auf Regionen in anderen geographischen Lagen und mit anderen kulturellen Voraussetzungen übertragbar? (Vergleiche etwa tagesspiegel.de, 9.4.2020.)

Man könnte die Liste lang fortsetzen, mit vielen YouTube-Videos von Experten diversen Sachverstands, die das vorläufige Ausbleiben von Katastrophen hier und da zitieren. Man könnte psychologische Phänomene wie jenes erwähnen, das mit der Metapher vom Elefanten und den Blinden beschrieben wird: Der eine betastet das Bein, und hält das Tier für einen Baumstamm, der zweite Blinde betastet den Schwanz und hält das Tier für einen Pinsel, und so fort – so ähnlich wirkt die Debatte um das Virus streckenweise.

Womöglich gar nicht

Wenn ein Fußballspiel im Fernsehen läuft, eine Meisterschaft etwa, dann sitzen daheim auf den Sofas viele Millionen Ersatz-Trainer, die manche Entscheidung besser zu wissen meinen als der offizielle Trainer.

Heute sitzen wir vor unseren Bildschirmen und mancher meint, besser zu wissen, was zu tun wäre, als die, die entscheiden müssen, was zu tun ist – und das ist auch gut so!

Es ist nur schwer ad hoc widerlegbar, dass es womöglich gar nicht zur weltweiten Pandemie gekommen wäre, wenn es in China möglich wäre, wie in vielen westlichen Ländern, das Handeln von Partei und Regierung zu hinterfragen, zumindest in Worten. Es ist gut, dass viele von uns meinen, klüger und weiser zu sein. Und ich stimme definitiv jenen zu, dass Deutschland von einem Haufen zufällig via Würfel ausgewählter Bürger besser regiert würde als von Gestalten wie denen in Merkels Kabinett (und doch meine ich nicht, dass wir es wirklich ausprobieren und irgendwelche zufälligen »Räte« einberufen sollten).

Ja, Deutschland hat spät reagiert und in den ersten Wochen haben Staatsfunk und Regierung die Gefahr geleugnet – dann aber haben sie eben doch eine 180-Grad-Wende hingelegt und gehandelt!

Es ist gut, dass wir der Regierung ein klügeres Handeln vorschlagen! Das ist Demokratie! Und Demokratie ist (auch) deshalb die »am wenigsten schlechte« Staatsform, weil sie ein kontinuierliches Dazulernen als Nation und Gesellschaft besser ermöglicht als jede andere Staatsform (soweit dies nicht etwa durch einen paralleldemokratischen Staatsfunk oder etwa als »NGOs« verkleidete Konzern-Propaganda wieder gehemmt wird).

Es ist gut, dass wir alle die »Sofa-Trainer des Regierungsspiels« sind, und anders als beim Fußball ist es für die Demokratie auch tatsächlich wichtig, dass wir es sind – und deshalb wäre es wirklich wichtig, dass wir auch wie Trainer, pardon: wie Verantwortungsträger denken. (Irgendwer muss es ja tun.)

Quatsch-Drogen-und-Buntstifte

Wenn wir nicht das Denken der Theoretiker übernehmen sollen, aber auch Vorsicht walten lassen sollen, wenn die Praktiker ihren Rat unter die Leute werfen wie der Karnevalsprinz die Kamelle, wie sollen wir dann denken?

Es macht einen Unterschied, ob man als Politiker denkt oder als Bürger. Wenn man als Politiker denkt, dann macht es einen Unterschied, ob man als Regierung denkt, oder als Opposition, und auch da ist es ein Unterschied, ob man zur Quatsch-Drogen-und-Buntstifte-Fraktion gehört oder zu jener, die Sozialismus wieder einführen möchte, also quasi mitregiert, oder ob man tatsächlich zu widersprechen wagt.

In der Migrationskrise (die ja weiterhin andauert und durch dumme EU-Ansagen noch verschärft werden könnte) dachte und handelte die Regierung nicht wie eine Regierung denken und handeln sollte, sondern fast schon wie ein linksextremer, kinder- und verantwortungsloser Extremist (»Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da«, welt.de, 27.9.2015).

Wenn die Regierung verantwortungslos, gefährlich und zukunftsblind handelt, wie die Regierung Merkel es ab 2015 zu tun scheint, dann muss der Bürger nicht nur als »Couch-Trainer« für die Regierung denken, dann muss er ein Stück weit auch als »Regierung in eigener Sache« denken, er muss handeln und »auf Sicherheit spielen«.

Wenn Bürger aber nun, in der Corona-Pandemie 2020, der Regierung kluge Ratschläge geben und Forderungen stellen, dann sollten sie auch wie Verantwortungsträger denken!

Es steht dem Einzelnen frei, sein Leben für dieses oder jenes Anliegen zu riskieren. Ein Skifahrer riskiert mit jeder Abfahrt sein Leben, und das ist okay für ihn, und doch wäre es mehr als merkwürdig, eine ganze Nation zu verpflichten, sich die schwarze Piste hinabzustürzen.

Ich kann als einzelner Bürger beschließen, mich einer Gefahr auszusetzen. Problematisch im Fall einer Virus-Pandemie ist, dass ich eventuell auch andere Menschen gefährde (wenn auch unabsichtlich, hoffentlich; wir denken an Leute wie jene Ex-Grüne und jenes FDP-Vorstandsmitglied, die einen »Witz« machten, beim politischen Gegner husten gehen zu wollen).

Die moralischen Grenzen, innerhalb derer ein Politiker das Leben seiner Bürger gefährden darf, sind weit enger anzusetzen, als moralische Grenzen des Einzelnen. Für den Politiker sollte das Überleben der Bürger die höchste Bedeutung haben. (Tatsächlich muss für Politiker der eigene Machterhalt die »relevanteste Struktur« bleiben, sonst werden sie von Leuten ersetzt, für die es das ist.)

Ein Politiker muss entscheiden, wie er seine Macht sichert und dabei so wenige Bürger wie möglich sterben, denn Herrscher ohne Volk zu sein ist auch doof, davon gibt es genug in den Irrenhäusern.

Randnotiz, zur Illustration

Im Text »Socken und Inkubationszeit« schrieb ich:

Der diesjährige Ramadan, diesmal in der Zeit der Ausgehverbote, wird eine Prüfung sein, wessen Recht in Deutschland gilt, sprich: wer der »Stärkere« ist.

Ich gehe davon aus, dass im Ramadan 2020, entweder die Ausgangs- und Kontaktverbote offiziell in Deutschland aufgehoben werden oder entsprechende Versammlungen faktisch nicht geahndet werden. So gilt zumindest offiziell weiterhin das Recht des Staates. Das Recht dem Stärkeren anpassen, ist das die deutsche Variante von »Rechtsstaat«?

Und, wissen Sie was? Ich würde, wenn ich heute verantwortlicher Politiker wäre, das für den Moment wohl ähnlich handhaben. Ein paar Infektionen mehr wären es mir wert, Zustände zu vermeiden, welche die Leute »bürgerkriegsartig« nennen würden.

Nach Ramadan aber, falls die Infektion wieder ausbricht, würde ich, falls notwendig, wieder »Lockdown« erklären, größer und totaler als zuvor. Ich würde versuchen, mich irgendwie durchzuwurschteln bis zur Bundestagswahl 2021 (siehe auch »Kanzlerin, so lange sie will«).

Es wird aktuell diskutiert, unter anderem Grundschulen wieder zu eröffnen (welt.de, 13.4.2020), also den Ort, wo garantiert keine Abstandsvorschriften eingehalten werden können und die süßen kleinen Popelmaschinchen das Virus untereinander schneller tauschen als einst die Sammelkarten, um es dann gut gelaunt in die Familien tragen (deshalb soll die Klassengröße nur 15 Schüler betragen, aber mit welchen Lehreren?!) – wehe den Familien, wo die Generationen nicht ohnehin sauber getrennt wohnen (siehe auch »Familien, Generationen und das Virus«). Wehe, wenn eine zweite Welle kommt, die dann aber »richtig«.

Es erschiene mir überhaupt ratsam, nach Ramadan gleich bis Weihnachten und Neujahr zuzumachen, dann spart man sich auch das Merkel-Lego um die Weihnachtsmärkte, und wenn Silvester verboten ist, muss man auch nicht den Kölner Hauptbahnhof wieder zur Hochsicherheitszone mit Frauenschutzzelten erklären und magische Amulette gegen Vergewaltigung verteilen. Schön, was alles funktioniert und ineinander greift. Unschön, wenn böse Essayisten zynisch, sarkastisch und doch realistisch klingen.

Ist es »richtig«? Für Juristen wie für Relevante-Strukturen-Ethiker gilt gleichermaßen: Es kommt drauf an! Und, wir wissen, worauf es »denen da oben« ankommt. Zuerst: Machterhalt. Und dazu, zweitens: Keine Unruhen (wenn sie sich nicht mit ein paar Staatsfunk-Milliarden und Ministerium-Propaganda abwenden lassen).

Steige nicht in Fässer

Die Theorie ist ein Werkzeug, um aus Erfahrung und Anschauung zu lernen, die Praxis ist ein weiteres.

Weder Theorie noch Praxis können (oder sollten!) uns das Denken abnehmen. Weder Theorie noch Praxis können (oder dürfen!) für uns die Entscheidung für diese oder jene Handlung treffen.

Theorie und Praxis sind Hilfsmittel, mit denen wir die jeweils aktuelle Situation und unsere relevanten Strukturen, sprich: unsere Werte und Moral, in produktiven Einklang zu bringen versuchen.

Ich höre den Mitmenschen zu, die, metaphorisch gesprochen, mit dem Fass die Niagara-Fälle hinuntergestürzt sind und überlebten. (Es ist, wie gesagt, eine Metapher, es gibt aber tatsächlich Bücher von diesen realen Leuten und über sie.)

Ich bin misstrauisch, wenn Theoretiker die Welt ihrer theoretischen Ideen mit jener Welt verwechseln, die uns allen sehr praktische Grenzen auferlegt.

Ich bin vorsichtig, wenn Praktiker ihre Praxis – und sei sie noch so erfolgreich und bewährt! – ganz selbstverständlich, oft implizit, allzu wenig hinterfragt auf die Regeln der übrigen Welt hochrechnen.

Ich rate uns, nach Wissen und Erkenntnissen zu suchen, die unseren bisherigen Ansichten widersprechen. (Die Thesen, die uns zustimmen, die finden uns schon von allein.)

Und, ich rate uns, wenn diese oder jene Leute uns ins Fass sperren und die Wasserfälle hinabwerfen wollen, lieber erstmal zu sagen: »Mach du mal, und dann überlege ich weiter!«

Dieses Lebensmotto, »Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!«, es gilt auch weiterhin. – Das »alles« in »Prüfe alles« aber, das bedeutet logisch auch: »Prüfe alles und alle, inklusive dir selbst!«

Prüfe deine Gedanken, klopfe deine Prämissen ab. Wenn du keine Lücken in deinen Argumentationen findest, hast du nicht genau genug hingeschaut.

Egal jedoch, was du sonst tust, bitte steige nicht in Fässer, die in Richtung des Wasserfalls schwimmen!

Weiterschreiben, Wegner!

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