Dushan-Wegner

23.11.2021

Merz, der Scherbenkehrer

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Josep Castells
Merz bewirbt sich darum, Merkels Scherben aufzukehren. Die lässt sich derweil einen doppelten Mitarbeiterstab genehmigen (vom Steuermichel bezahlt, klar) – und wird wohl woanders noch mehr Schaden anrichten. Diese Gestalten ticken anders als Sie und ich.
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Man möge es mir bitte nicht übel nehmen … – ach, wissen Sie was? Von mir aus darf man es mir übel nehmen, ich bin alt genug, etwas Gegenwind auszuhalten. Man darf es mir also gern mit irgendwelchen neu-linken oder fake-konservativen Phrasen ankreiden, wenn ich sage: Als (bald/bereits?) prototypischer »alter weißer Mann« finde ich es amüsant und etwas peinlich, wenn alte weiße Männer von den PR-Leuten in Redaktionen und anderswo zu frischgesichtigen Hoffnungsträgern stilisiert werden – natürlich nachdem sie sich angeblich total »gewandelt« haben und jetzt »ganz anders sind«.

Aktuell erleben wir, dass Herr Merz wieder CDU-Chef werden möchte. Es hat etwas Tragikomisches, fast wie bei der Comicfigur Isnogud, die vergeblich Kalif werden möchte anstelle des Kalifen – nur dass es hier unklar ist, wer eigentlich wirklich der Kalif ist, gegen den Herr Merz wütet.

Aber diesmal ist alles ganz anders – nicht nur weil Mama Mutti wohl weiterzieht – denn »dieser Friedrich Merz ist ein ganz anderer als 2018 und 2020«, so zumindest versichert uns Hugo Müller-Vogg bei focus.de, 22.11.2021: »Im dritten Anlauf entpuppt sich der Wirtschaftsexperte überraschend auch als Familienpolitiker. Sein Mantra: Die Politik solle familienfreundlicher werden, damit auch junge Mütter und Väter leichter mitwirken können.«

Ein Zyniker könnte anfügen: Sonst wollen Politiker »mehr Zeit mit der Familie verbringen«, wenn sie gerade gescheitert sind und sich, um eine Fußballmetapher zu verwenden, auf dem Weg zurück in die Kabine befinden – nicht wenn sie gerade neu eingewechselt werden wollen!

Aber gut, das haben ihm wohl seine PR-Strategen so geraten. (Ich darf an dieser Stelle auf meinen Essay vom 2.9.2016 über »Praktikant X« verweisen. Dort stelle ich die These auf, dass sich alle Berliner Ministerien und sonstigen Institutionen denselben PR-Praktikanten teilen, und dieser ist eben stramm neu-links. Das würde erklären, warum Merz sich plötzlich anhört wie Ursula von der Leyen, als diese die Bundeswehr mit viel Beratergeld und politisch korrektem Gefühlsgedöns international lächerlich machte – um dann, so scheint es, vor ihren Skandalen nach Brüssel zu fliehen.)

Nur genug Gold

Helmut Kohl ist als Kanzler der Deutschen mit meiner Kindheit verbunden und mir tun die Kinder etwas leid, deren Kindheit von der hoffnungsarmen Merkel-Ära geprägt ist.

CDU, das war ein Wert. Unter Merkel wurde die Bundes-CDU zum Merkel-Wahlverein, und ohne Merkel ist sie halt nur noch ein Verein. Ein Verein mit sehr viel Geld und vielen Beziehungen wohlgemerkt, doch ohne echten gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch.

Kohl versprach eine geistig-moralische Wende, Merkel brachte den geistig-moralischen Bankrott – und Merz will jetzt der geistig-moralische Insolvenzverwalter sein?

Es ist eine magische Sache: Auch für ein sinkendes Schiff finden sich Anwärter für den Kapitänsposten, wenn das Schiff nur genug Gold an Bord hat. Selbst wenn Merz genug eigenes Gold hat, von den guten Beziehungen kann man als Erfolgstyp vermutlich nie genug haben.

Wird die Bundes-CDU, eine in der Seele entkernte Partei also, zum Hobbyprojekt reifer Multimillionäre? Ist Merz ein gewandelter, neuer Mensch?

»Er kann auch sentimental«, schmachtet Müller-Vogg. Merz redet viel von seinen Gefühlen für die Partei, die CDU sei »ein ganz wesentlicher Teil seines Lebens« (so Müller-Vogg), »er habe sich der Partei immer engstens verbunden gefühlt«. Es erinnert an »Merkels merk-würdigen Trick« (Essay vom 24.5.2016), den ich auch schon in Talking Points beschrieb: Wer über Gefühle redet, muss weniger argumentieren.

Wofür steht Merz aber wirklich? Vor drei Jahren, über dem Essay vom 15.11.2018, titelte ich: »Wofür steht Merz – außer dass er die AfD doof findet?« – In dieser Frage sind wir nicht weiter als damals, es ist eher noch unklarer.

Durchaus rational

»Es hat etwas Irrationales«, sagt Merz über seinen dritten Anlauf, doch das ist natürlich falsch. Merzens Chancen stehen – so die Delegierten nicht etwa von höheren Mächten »massiert« werden, ganz gut. Die Gegenkandidaten sind Helge Braun und Norbert Röttgen (siehe auch stern.de, 22.11.2021), der schwergewichtige Merkel-Ausputzer in Sachen Corona (der auf den Offene-Grenzen-Ausputzer Peter »Merkels Bester« Altmaier folgte, und dazu der politisch eher leichtgewichtige Röttgen, der nie das 2012-NRW-Desaster abschütteln wird (siehe etwa zeit.de, 13.5.2012).

(Nebenbei: Es ist spannend, mal »Merkels bester Mann« zu googeln. Die Ergebnisse reichen von ehemaligen Regierungssprechern bis tatsächlich zu Roland Koch.)

Vom Puppentheater

Ich schrieb einst:

Du blickst nach Berlin und der Abgrund blickt zurück – wer nicht zwischendurch von der Politik abschaltet, und überlegt, was er SELBST (er)schaffen kann, der könnte mit hinabgerissen werden. (Essay vom 15.3.2018)

Die Warnung vor dem Blick in den Abgrund gilt heute mehr denn je. Das politische Berlin ist ein Abgrund, und die Gestalten, die sich dort wohl fühlen, müssen sie doch folglich Gestalten des Abgrunds sein?

Diese Figuren mögen das Schicksal des Landes formen – die Frage ist doch, ob wir zulassen, dass sie auch unser Leben formen, ob sie uns die gute Verdauung und den gesunden Schlaf verderben.

Wir ahnen alle, dass unsere Zukunft längst nicht mehr wesentlich in Berlin bestimmt wird – und das dekadente Brüsseler Theater fühlt sich bald auch nur wie eben das an: ein Puppentheater, wenn auch eines mit sehr gut bezahlten Puppen.

Nochmal den Anlauf

Es ist schier unmöglich, wenn man aus dem Abgrund heraus regiert wird, nicht dessen kalte Finsternis in den eigenen Knochen zu spüren. Es ist schwer, wenn man vorm Abgrund steht, in eben diesen nicht zu blicken.

Ich selbst bin oft genug der Versuchung erlegen, in den giftigen Berliner Nebel zu starren, in der Hoffnung, sinnvoll deutbare Umrisse zu erkennen – ein guter Teil meiner bis heute 1253 Essays dokumentiert diese Versuche.

Wenn nun Merz zum dritten Mal den Anlauf nimmt, Chef des CDU-Konzerns zu werden, dann dürfen auch wir nochmal den Anlauf wagen, dieses Kasperletheater zu ignorieren (ich fürchte, auch dieser Versuch des Ignorierens wird mir misslingen).

Ob man es mir übel nimmt oder nicht, ich versuche mal eine These: Wenn CDU-Vorsitz oder sogar Kanzlerschaft heute noch eine echte Machtposition wären, hätte Merkel beides nicht aufgegeben – um sich für ihren »Ruhestand« erstmal den Mitarbeiterstab aufs Doppelte des Vorgesehenen auszubauen, natürlich auch weiter vom deutschen Steuermichel finanziert (bild.de, 17.11.2021(€)) – und selbstverständlich wurde es ihr bewilligt.

Pflücke, aber nicht Scherben

Im April dieses Jahres, im erschreckend relevanten (und ebenso erschreckend unrealistischen) Essay »Macht, Freiheit und Dexit« – ich träume dort von Deutschlands »Hinausgehen aus der EU-Knechtschaft« – zitierte ich den römischen Dichter Horaz: »Carpe diem, quam minimum credula postero«. Zu Deutsch: »Nutze den Tag, und vertraue aufs Morgen so wenig wie möglich.«

»Carpe« heißt wörtlich übrigens pflücke – also: pflücke den Tag, wie von einem Baum, der dir seine Früchte anbietet, du musst dich nur strecken und danach greifen. Wie viele Menschen doch ihre Tage zu Boden fallen und verrotten lassen – oder sie (und damit sich) ungepflückt am Baum der Möglichkeit einem traurigen Verdorren anheim geben.

Merz bewirbt sich also als Merkels Scherbenaufkehrer. Der Mann will zum Kapitän einer entseelten, aber reichen Parteihülle werden. Soll er doch.

Wenn Herr Merz meint, dass das das Beste ist, das er mit seinen Tagen anstellen kann, dann soll das das eben sein.

Ich bedenke den Horaz, und ich bedenke beide Teile seines Satzes – das mit dem Pflücken und das mit dem morgigen Tag, dem man lieber nicht allzu fest vertraut.

Pflücke den Tag, pflücke diesen Tag – und morgen schauen Herr Merz und Sie und ich dann weiter.

Weiterschreiben, Wegner!

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