Dushan-Wegner

04.03.2024

Lohnt es sich noch, zu kämpfen?

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten
Immer mehr Bürger haben das Gefühl, an den aktuellen Entwicklungen sowieso nichts ändern zu können. Wie haltet ihr es? Kämpft ihr noch, seid ihr schlicht wütend oder habt ihr euch längst abgefunden?
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Gerade eben erst: Die letzte Mail, die ich öffnete, war eine Reaktion auf den gestrigen Essay »Geld mit Eigenschaften«. Die Mail beginnt so: »Tja, sehr geehrter Herr Wegner, und was nützt es mir am Ende, wenn ich für mich persönlich festlege, was Freiheit und persönliches Frei-Sein darstellt/bedeutet? Wahrscheinlich gar nichts.«

Diese Mail war stellvertretend für manche andere. Ich spüre seit einigen Wochen eine Veränderung in der Tonlage eurer Mails, eurer Kommentare, der Gespräche mit lesenden Mitmenschen.

Es ist ein Sich-Abfinden. Nicht bleischwer. Nicht erleichtert. Vor allem faktisch.

Nicht den Kopf in den Sand

Und dieses kühle Sich-Abfinden ist neu. In den Jahren, in denen ich meine Essays schreibe – dieser Text samt Video ist Nummer 1.994 –, habe ich regelmäßig als Reaktion von euch gehört, dass man doch jetzt »etwas tun« müsse, »laut werden« müsse, jetzt »nicht den Kopf in den Sand stecken« solle.

Das hat sich verschoben.

Und ich kann nicht anders, als an ein Thema zu denken, ein Erklärungsmuster, das ich schon im Essay vom 6.11.2020 erwähnte.

In jenem Essay habe ich die Kübler-Ross-Phasen vorgestellt. Es sind die berühmten Sterbephasen, in denen ein Mensch den Tod bewältigt. Das kann der eigene Tod sein oder der Tod eines lieben Menschen. Elemente dieser Phasen lassen sich allerdings auch auf andere Verlusterlebnisse anwenden.

Phasenweise Bewältigung

Manche wenden sie auf zerbrochene Beziehungen an. Ich wende sie auch auf Politik an, auf unser Verhältnis zum größeren politischen und gesellschaftlichen System, dessen Teil wir sind – und dessen Teil wir auch sein müssen, um zu überleben.

Die erste Phase ist das »Nicht-Wahrhaben-Wollen«. Diagnose und Faktenlage werden als Missverständnisse gedeutet. »Das kann doch nicht wahr sein«, sagt man. Und man glaubt, es sei alles ein Irrtum, der sich leicht aufklären lässt, wenn man nur mit den richtigen Leuten ein paar klärende Worte wechselt.

Die zweite Phase ist der Zorn, die Wut, die Suche nach Schuldigen. Der Trauernde schießt um sich. Der Bürger sieht in allem und jedem einen Schuldigen: im politisch interessierten Nachbarn, im verdächtig unpolitischen Nachbarn, in Parteigenossen, in allen politisch Andersdenkenden sowieso.

Ja, im Zorn werden sogar Familienmitglieder zu Gegnern, und irgendwann findet sich schon etwas, das deren Schuld beweist. (Spätestens aber, wenn man, wie ich im Essay vom 28.10.2018 beschrieb, im Auftrag einer vermeintlichen höheren Moral von seinen eigenen Kindern verraten wurde, kann der Trauernde sogar einen giftigen Zorn auf ebendiese entwickeln.)

Die dritte Kübler-Ross-Phase ist das Verhandeln. Der Trauernde hat die Faktizität der Faktenlage akzeptiert, aber nicht deren Unveränderlichkeit.

Er versucht, mit Gott und Ärzten einen Kompromiss zu schließen. Der Trauernde ist bereit, seine Hoffnung auf fast Beliebiges zu setzen. Das ist leider die Gelegenheit für Scharlatane der Medizin wie auch der Politik, der Manipulatoren und Populisten. Der Trauernde fühlt, dass er »nichts mehr zu verlieren« hat, also setzt er alles auf eine Illusion.

Die vierte Phase ist die Depression. Der Trauernde akzeptiert, dass es verloren ist, dass er sterben wird, dass der geliebte Mensch gestorben ist, dass seine Hoffnung auf eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung sinnleer wurde.

Welchen Sinn hatte der bisherige Kampf überhaupt? Der Mensch verfällt in Depression, in Sinnkrise und Verzweiflung. Wofür noch kämpfen, wenn das, wofür es sich zu kämpfen lohnte, nicht mehr existiert, nicht mehr existieren kann? Im besten Fall kann der totale Rückzug aus aller Verantwortung noch der am wenigsten gefährliche Ausweg sein. (Das erklärt die wachsende Zahl der aggressiv Unpolitischen.)

Schließlich die fünfte Phase, die Akzeptanz. Der Betroffene – ob er um sich selbst, um einen lieben Menschen oder eine höhere Ordnung trauert – akzeptiert, dass es ist, wie es ist. Man könnte sagen: Er »findet sich ab«.

Er fragt sich nüchtern, was es bringt, wenn er noch kämpft und verhandelt, und er gesteht sich ehrlich ein: »Wahrscheinlich gar nichts.«

Abnehmender Widerspruch

Über die Jahre meines Schreibens habe ich immer wieder gewagt, euch meine düsteren Szenarien unserer gemeinsamen Zukunft vorzustellen. Vom letzten Tag auf dem letzten Jahrmarkt sprach ich (Essay vom 22.10.2018), von den letzten Tagen des Westens (Essay vom 19.2.2017).

Wenn ich düster war, dann immer, um euch zu provozieren, auf dass ihr mir widersprecht: »Doch, Herr Wegner! Wenn wir kämpfen, wenn wir zusammenhalten, wenn wir eine neue Vision entwickeln, dann kann es noch und wieder gut werden!«

Und ihr widerspracht mir! Mein essayistischer Fatalismus provozierte eure tätige Hoffnung.

Zuletzt aber begannen immer mehr von euch überraschenderweise, mir auch im Düsteren zuzustimmen.

Das bereitete mir Sorge.

Fatale Akzeptanz

Und nun, in den letzten Tagen und Wochen, beginnt ihr immer öfter, mir aktiv zu widersprechen, wenn ich doch positive Hoffnung und Möglichkeiten suche. Immer mehr politisch denkende Mitbürger scheinen in Phase Fünf angekommen zu sein, der Akzeptanz.

Das aber ist der Moment, an dem ich euch widerspreche!

Nein, es sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Nach allen rationalen Kriterien ist die Sache verloren. Doch was ist »die Sache« überhaupt?

Ob wir das alles hier »Demokratie in Spätphase«, »WEF-Sozialismus«, »Klimadiktatur« oder noch ganz anders nennen, so ist »die Sache, um die es geht« doch das Zusammenleben von Menschen in einer Ordnung, die dem Einzelnen Glück ermöglicht, die den Kindern ein Zuhause und eine Zukunft gibt, den Familien etwas Ruhe und Raum zum Wachsen, den Unternehmern die Rahmenbedingungen zum Schaffen des Bewährten und des Neuen, und den Arbeitern eine Arbeit, die sie täglich trotz aller Mühe etwas Sinn erleben lässt.

Nicht keine Hoffnung

Ja, ich bin ein bekennender Contrarian (siehe Essay vom 24.2.2024). Ich bin aus einem vermutlich angeborenen Reflex erst mal dagegen – immer. Auch deshalb muss ich euch widersprechen, wenn ihr sagt, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Doch hier geht es um mehr als grundsätzliches Erst-mal-Dagegensein.

Ja, ich bin in Trauer – um uns, um unsere Hoffnung. Doch in welcher der Kübler-Ross-Phasen befinde ich mich heute?

Die Antwort ist: in allen fünf!

Ja, ich »akzeptiere«, wie es in Phase Fünf heißt. Ich akzeptiere, dass es ist, wie es ist, denn sich selbst zu belügen sei auch weiter den Linken und den Frischverliebten vorbehalten.

Doch ich beschließe zu glauben, dass, solange unser Atem geht und unser Herz schlägt, solange wir eine Vision vom Zusammenleben denken können, unsere Wiederauferstehung und Re-Inkarnation möglich sind.

Solange ihr lebt

Ich sage: Akzeptiert, dass es ist, wie es ist – und dann, solange ihr lebt, arbeitet euch in umgekehrter Richtung durch Kübler-Ross vor!

Lasst uns aussprechen, dass es im Dunkeln dunkel ist. Wir haben Angst, wir sehen Krieg nahen, Unfreiheit und Diktatur, Herrschaft der Lügen und Landgewinne gewiefter Manipulatoren. Wir fühlen uns hilflos. Es wäre nicht menschlich, wenn es anders wäre. Doch gerade deshalb: Der Geist soll den Geist zwingen, den Blick wieder vom Abgrund zu heben.

Lasst uns verhandeln, aber nicht in blinder Panik, sondern mit kühlem Realismus. Und lasst uns nie die Werte vergessen, die uns zu all dem treiben. Selbst die dünnste Chance zu nutzen ist mathematisch unendlich viel besser, als aufzugeben. Lasst uns die Möglichkeiten nutzen, die realistisch existieren – und keine kostbare Sekunde verschwenden, weder auf Illusionen noch auf Zögerlichkeit.

Lasst uns zornig sein. Doch unser Zorn sei klug, ehrlich und, ja, demütig. Sind wir nicht selbst die Ersten, auf die wir zornig sein sollten? Ist es nicht zuerst – und zuletzt – unsere eigene Schuld, dass wir diesen Zustand überhaupt zuließen?

Die richtigen Ziele des Zorns

Die Trojaner sollen nicht dem Odysseus zürnen, sondern sich selbst, dass sie das hölzerne Pferd in ihre Stadt holten. Wer die Türen nachts offen stehen lässt, der hat seinen Zorn darüber doch zuerst auf sich selbst zu richten, nicht wirklich auf den Dieb, der das Haus ausraubt. Der Frosch, der den Skorpion übers Wasser trägt, sollte nicht dem Skorpion zürnen, wenn dieser zusticht. Und entsprechend der Schlafende in der neuen Volksweisheit: Wer in der Demokratie schläft, der wacht in der Diktatur auf. Ja, seid zornig! Doch euer Zorn sei klug und demütig.

Und schließlich, wenn wir wieder bei Phase Eins ankommen sollten, dem Nicht-Wahrhaben-Wollen, lasst uns dieses Ziel umdefinieren, erweitern: Nicht-Wahrhaben-Wollen, dass es keine Hoffnung gibt, einen Zustand zu erreichen, der Glück, Gemeinschaft, Werte und Wachstum möglich macht.

Was fort ist, ist fort, doch das heißt nicht, dass nicht Neues geboren werden kann, welches die alten Werte zu neuem Leben erhebt.

Mir klingen die Worte der Leserin in der Seele, die sich selbst die Frage stellt, was es ihr nützt, für sich festzulegen, was Freiheit bedeutet: »Wahrscheinlich gar nichts.«

Alles verloren?

Ich widerspreche.

Liebe konkrete Leserin, die Sie mir diese Zeilen gestern schrieben, die Sie mir seit Jahren immer wieder so freundliche Worte schreiben – Sie wissen, wer Sie sind: Wenn wir uns auch nur auf die Hälfte der Werte und Worte hier einigen können, dann haben wir eine gemeinsame Basis, ein Fundament, das viel wertvoller und zuletzt stärker ist, als alles, was irgendwelche Manipulatoren anbieten können.

Die Demokratie und manches andere mag verloren sein. Doch die Hoffnung, dass Menschen sich klug organisieren, ihr Glück suchen und gemeinsam klüger werden können, die will und werde ich nicht aufgeben – egal, wie oft ich dafür die Kübler-Ross-Phasen vorwärts und rückwärts abgehen muss.

Lasst uns!

Lasst uns festlegen, lasst uns ehrlich sagen – auch und vor allem ehrlich zu uns selbst –, was Freiheit und lebenswertes Leben für uns bedeuten.

Lasst uns Glück innerhalb dieser politischen Realität suchen. Und dann lasst uns – und sei es durch kleinste Zeichen des gemeinsamen inneren Widerstands – um das kämpfen, was uns wirklich wertvoll ist.

Weitermachen, Wegner!

All diese Essays und die Videos dazu sind nur durch eure regelmäßige Unterstützung möglich. Ich danke euch! 🤗 

Auf danke.dushanwegner.com findet ihr eine spezielle 2000-Essay-Edition von Leserbeiträgen, doch hier sind die Klassiker:

Jahresbeitrag(entspricht 1€ pro Woche) 52€

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