Dushan-Wegner

28.09.2023

Neue deutsche Zerrissenheit

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Bild: »Noch schwimmt es«
Deutscher zu sein bedeutet heute, zerrissen zu sein. Die Frage ist nicht, ob du dich zerrissen fühlst, sondern in wie vielen Dimensionen. Etwa: Wenn einer fragte, wie es um unsere Zukunft bestellt ist, was sagst du? Was MÖCHTEST du sagen (können)?
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Wir waren mal anders! Es gab mal eine Zeit, da wären wir geschockt gewesen, wenn ein deutsches Unternehmen angekündigt hätte, seine deutsche Produktion zu schließen und ins Ausland abzuwandern.

Dies sind bekanntlich nicht jene Zeiten. Gelegentlich notierte ich einzelne Fälle, etwa als Adidas seine deutsche »Fabrik der Zukunft« schloss (Essay vom 12.11.2019).

Kanzler vs. Wirtschaft

Heute müssen Meldungen über die Abwanderung von Unternehmen in einer weiteren nachrichtenrelevanten Dimension auffallen, um noch Neuigkeitswert zu besitzen.

Aktuell berichtet das handelsblatt.de, 27.9.2023 (hinter Bezahlschranke) von der großen »Entfremdung« zwischen dem deutschen Kanzler und der Wirtschaft. Das heißt: Die sagen ihm das ins Gesicht.

Zwar treffe sich Kanzler Erinnerungslücke beinahe täglich mit deutschen CEOs (gesprochen: Si-Ih-Ou-s, ehemals »Vorstandsvorsitzende«), doch die Stimmung habe sich jüngst verdüstert. »Klare Worte« sollen die Männer in den feinen Anzügen ausgesprochen haben. Es habe »förmlich geknallt«.

Und es gibt wohl offene Drohungen von Konzernen, aus Deutschland abzuwandern.

Ganz ohne Drohungen werden ja einzelne Produktionsstätten längst geschlossen oder direkt etwa in Ungarn neu eröffnet. Zu den Absurditäten des real existierenden deutschen Propagandastaates gehört ja, dass angeblich die AfD dem »Ansehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland schade«, aber etwa die deutsche Autoindustrie seit Jahren sehr gern beim ach so schlimmen Viktor Orbán produziert und dort Milliarden Euro investiert (siehe etwa bmwgroup.com, 25.11.2022faz.net, 22.7.2022faz.net, 25.11.2022). Ja, sogar deutsche Panzer für die Ukraine werden beim bösen Onkel Orbán gebaut! (bloomberg.com, 18.2.2023 (€))

Und natürlich, auch das sei gesagt, scheint es mindestens eine Ausnahme zu geben, nämlich das Tesla-Werk in Berlin-Grünheide (für Stellenangebote dort siehe tesla.com). Neben all den üblichen Fußnoten ist da der Wermutstropfen lediglich, dass es sich um ein US-Unternehmen handelt und die deutsche Fabrik nur die in den USA erdachten Ideen aus dem Blech stanzt. Ausgerechnet das Hochlohnland Deutschland als Elon Musks verlängerte Werkbank – wer hätte das gedacht!

Zerrissener denn je

Der geistig Blinde, sprich: der »linksgrüne« Deutsche, ist sich natürlich auch weiter seiner Sache gewiss. Der Linksgrüne wird den Eisberg noch leugnen, wenn er selbst längst auf einer schwimmenden Kabinentür im eiskalten Wasser des Nordatlantik schaukelt.

Der denkende und fühlende Deutsche jedoch ist heute zerrissener denn je.

Wenn ich über Probleme in Deutschland schreibe, dann antworten mir Leser zuverlässig: »Herr Wegner, Sie sehen sehr düster, doch es gibt so viel Schönes!«

Ich stimme diesen Lesern zu.

Schreibe ich aber über das Schöne, dann antworten mir andere Leser: »Herr Wegner, der Drops ist längst gelutscht.«

Leider will etwas in mir auch diesen Lesern zustimmen.

Ich bin heute mehr denn je »zerrissen«. Und ich weiß, dass ich damit nicht allein bin.

Es vergeht kein Tag, ohne dass ich Mails von deutschen Lesern aus den fernsten Ecken dieses Planeten erhalte. (Das Internet hat auch seine wunderbaren Seiten!)

Diese Deutschen führen ihr Deutschsein im Ausland fort. Doch auch sie fragen sich, ab welchem Punkt man vom Deutschen zum deutschsprechenden Wanderer wird (siehe dazu auch den Essay »Wanderer, aus Gründen« vom 6.12.2019) – sprich: zum lebenslang Zerrissenen.

Männlein wie Weiblein

Jeder Mensch ist ja zerrissen, und das in mehr als einer Dimension!

Der Mann ist beispielsweise zerrissen zwischen seiner »natürlichen« Rolle als Beschützer und Kämpfer, und dem gegenüber seiner »neuen« Rolle in einer Gesellschaft, welche Männer dämonisiert und den Jungen schon in der Schule einbläut, dass ihre angeborenen Jungen-Eigenschaften »toxisch« seien.

Die Frau ist zerrissen zwischen ihrer »natürlichen« Rolle als Mutter und Fürsorgerin und dem Drang, ihr Gehirn über die Grenzen von Heim und Herd hinaus anzuwenden (siehe dazu auch Essay »Also sagte ich nichts«).

So viele Zerrisenheiten! Mehrmals täglich sind wir zerrissen zwischen unserem natürlichen Bedürfnis nach Zucker, Salz und Fett – und dem Wunsch, gesund zu sein. Wir müssen uns selbst daran erinnern, dass dieses Bedürfnis aus einer Zeit stammt, als an diesen Ingredienzen ein Mangel herrschte, doch wenn man sie aß, etwa als Obst oder frisches Fleisch, diese zuverlässig mit Vitaminen und Mineralien kamen – anders als heute.

Und was wäre Hollywood ohne unsere Zerrissenheit in Liebesdingen? Worüber würden wir reden, wenn wir nicht über Politik und das Wetter reden wollten?

Jeden Tag, ob im Büro oder im Supermarkt, sind wir konfrontiert mit jener Zerrissenheit, die Grönemeyer so treffend in »Was soll das« beschrieb: »Meine Faust will unbedingt in sein Gesicht, und darf nicht, und darf nicht.« (Das war damals, bevor Grönemeyer zu dem wurde … ach, lassen wir das. Es zieht ja noch immer genug Leute zu seinen Kundgebungen hin.)

Die andere Seite

Doch wir hier sind keine Linken, das heißt, dass wir uns in Empathie üben dürfen und wollen, auch für Linke (siehe dazu den Essay »Eine Brücke über den großen Graben« vom 15.12.2017).

Wir verdrehen hier gelegentlich die Augen über Gutmenschen, die, wenn es sie selbst betrifft, plötzlich zu »Bösmenschen« werden (siehe dazu Essay vom 3.4.2018).

Doch vertun wir uns nicht: Lügner sind nicht alle blöd, auch nicht Selbstbelüger. Gutmenschen sehen und fühlen durchaus den Widerspruch zwischen ihren Lebenslügen und der Realität, und innerlich sind sie zerrissen. Also flüchten sie sich in die Existenz als »Non-player characters«, geben vorfomulierte Propagana-Stanzen ab, um ihre Zerrissenheit nicht vor anderen oder gar sich selbst zugeben zu müssen. (Auch deshalb ist es Gutmenschen so wichtig, ihre Mitmenschen via politische Korrektheit zur Übernahme der linken Lebenslügen zu zwingen: Gutmenschen hoffen, dass die eigene Zerrissenheit weniger schmerzt, wenn alle denselben Irrtum glauben.)

Current Nazis

Eine ganz besondere Teilmenge der Gutmenschen stellt die besonders in der halbwirklichen Welt der sozialen Medien vertretene »I-support-the-current-thing«-Fraktion dar. Das sind jene Individuen, die mit Symbolen wie aktuell der Ukrainischen Flagge oder eben noch den (mehrfachen) Injektionsspritzen darauf hinweisen, dass sie unterstützen, was man als braver Untertan derzeit zu unterstützen hat.

Die Current-thing-Fans stehen aber heute vor einer besonders unappetitlichen Zerrissenheit: Mit jedem Jahr, das Hitler samt seiner NSDAP tot ist, werden diese beiden stürmischer von den Current-thing-Streitern bekämpft. Das führt zu einem erweiterten Nazi-Begriff: Man definiert sich als Rundum-Anti-Nazi-Kämpfer, womit »logischerweise« jeder, der mit einem nicht übereinstimmt, nur ein »Nazi« sein kann.

Allerdings stecken die Current-thing-Trottel aktuell in einem selbst für sie nur mit größtem Aufwand zu leugnenden Dillemma: Bis Putin dort einmarschierte, war es allgemein bekannt, dass die Ukraine nicht nur das korrupteste Land Europas ist, sondern dass dort auch waschechte Nazis agieren, inklusive Hakenkreuzen und anderen echten Nazi-Insignien. Jetzt aber gilt es als »current thing«, die Ukraine bedingungslos zu unterstützen. Und so sind manche Current-thing-Clowns etwas zerrissen, denn sie müssen erklären, warum Grundrechte-Demonstranten in Deutschland die schlimmen Nazis sind, aber die tatsächlichen Nazis in der Ukraine eigentlich total knorke.

Diese Zerrissenheit, diese vollständige Trennung von Denken und Realität, wurde letzte Woche in Kanada zelebriert, als das kanadische Parlament einen 98-jährigen Veteranen der Waffen-SS als kanadischen und ukrainischen Helden preisen ließ. Das kanadische Parlament huldigte ihm mit stehender Ovation (siehe X/Twitter). Das Video auf YouTube wurde inzwischen gelöscht, doch der Top-Kommentar darunter merkte sarkastisch an: »Nächstes Jahr wird Kanada Hitler zum Helden erklären für seinen Kampf gegen Russland 😂«

Umwelt, auch zerrissen

Im Essay »Windkraft ist Gewalt« beschrieb ich 2020, wie im Namen des Klimaschutzes sowohl die Natur als auch das Leben der Menschen kaputtgemacht werden.

Ob Bauern, die schöne Getreidefelder durch hässliche Solaranlagen ersetzen (hessenschau.de, 23.1.2022), und das Land schrittweise in eine Science-Fiction-Dystopie verwandeln, oder Windkraft-Anlagen, die das Klima tatsächlich erwärmen, was die Propaganda lustigerweise schon vor 10 Jahren sowohl bestätigte als auch »widerlegte« (deutschlandfunk.de, 30.4.2012) – selbst wenn man an den menschengemachten Klimawandel glaubt und es mit dem Klimaschutz durch »Erneuerbare« sowohl ernst als auch ehrlich meint, ist man doch zerrissen.

Zerrissenheit der Migranten

Die größte Herausforderung (um nicht »Bedrohung« zu sagen) für das Zusammenleben in Europa stellen derzeit die vielen Tausend an Europas Küsten anlandenden Boote mit jungen afrikanischen Männern im wehrfähigen Alter dar.

Einige der Finanziers dieser Einwanderung (um nicht »Invasion« zu sagen) leben weit weg und treiben offenbar eigene Interessen voran.

Doch die meisten von uns, die »Normalen«, die es auch betrifft, fühlen sich durchaus zerrissen. Dass wir jedem Menschen, der um Unterkunft bittet, diese auch gewähren, gilt bei uns als »Wert« oder sogar »Menschenrecht«. Doch Werte brauchen einen Kontext, innerhalb dessen sie auch (dauerhaft) umsetzbar sind.

Natürlich ist das Motiv jedes einzelnen der »jungen Männer« mehr als verständlich. Wenn die Möglichkeit besteht, in Deutschland vollversorgt zu leben, statt in Nordafrika in Armut täglich ums Überleben zu kämpfen, wäre es geradezu unverantwortlich, die Überfahrt nicht zu wagen.

Und die jungen Männer sind gewiss auch zerrissen, wenn auch nach aller Erfahrung auf andere Weise.

Sie wurden teils in Kulturen sozialisiert, in denen bestimmte Verhaltensweisen selbstverständlich waren, und sie besitzen wenig Übung darin, das eigene Tun und Handeln zu hinterfragen, zu prüfen und anzupassen.

In Deutschland sind sie dann zerrissen zwischen ihrer eigenen Kultur und den erwarteten Verhaltensweisen in Deutschland. Einige von ihnen suchen Zuflucht im Islamismus (siehe etwa Essay vom 24.10.2022), der die gefühlte Zerrissenheit religiös verbrämt und, ähnlich wie Gutmenschen es tun, es unmöglich machen will, die Widersprüche aufzuzeigen.

Wie eine Zitrone

Ich könnte diese Liste der Zerrissenheiten lange fortführen. Ich könnte von Kompromissen bei den großen persönlichen Entscheidungen sprechen, die eben immer auch eine Zerrissenheit abbilden. Von der gelegentlichen Zerrissenheit zwischen Sinn und Einkommen beim Broterwerb. Von der Zerrissenheit zwischen moralischer Gefühligkeit und langfristiger Notwendigkeit, die ja den Unterschied zwischen Gutmenschen und Verantwortungsethikern ausmacht (siehe dazu »Die Schuld der Gutmenschen« vom 19.12.2017).

Ja, wir leiden und laborieren an schmerzhaft vielen Zerrissenheiten. Zerrissensein ist »conditio humana«, (eine) Grundbedingung des Menschseins.

Doch die eine Zerrissenheit, die mich heute mehr beschäftigt als manche andere, ist die »neue deutsche Zerrissenheit«.

Einerseits spüren so viele Menschen in sich den Wunsch und die Notwendigkeit, die Heimat zu bewahren und die Wurzeln nicht verdorren zu lassen, um den Kindern ein Zuhause im lokalen wie auch im emotionalen Sinne zu hinterlassen.

Andererseits wäre da die Realität eines Landes, das von einer ebenso lächerlichen wie destruktiven Regierung und rätselhaften globalen Mächten wie eine Zitrone ausgepresst zu werden scheint, letzteres natürlich unter mehr als williger Mitwirkung der eben erwähnten »Regierung«.

Bleiben oder gehen, kämpfen oder sich abfinden, übers Große weinen oder sich übers Kleine freuen?

Damit ihr wisst

Ich sage mir und damit jedem, der hier mitliest: Seid ehrlich ob der Realität. Und dann: Umarmt eure Zerrissenheit!

Stehe dazu, dass du zerrissen bist. Wer sich heute seiner Sache ganz sicher ist, der ist ein Linksgrüner (oder steht auf andere Art im Verdacht verminderter Verstandeskraft).

Dein Zerrissensein zeigt, dass sowohl dein Verstand als auch dein Herz noch funktionieren.

Ja, dein Zerrissensein diene dir als Motor, als Kraft.

Ein alter Russe antwortete mir einmal, als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, er werde morgens wach, alle Gelenke täten ihm weh und das sei ein gutes Zeichen, denn das heiße, dass er noch lebe.

In diesem Geiste also: Freut euch, dass ihr euch heute zerrissen fühlt, denn damit wisst ihr, dass immerhin euer Verstand und euer Herz noch funktionieren, sprich: dass ihr auch seelisch noch am Leben seid.

Weiterschreiben, Wegner!

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Neue deutsche Zerrissenheit

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